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Kultur: Anmut und Gespinst

Neue Gedichte von Ernest Wichner

Ernest Wichner:

„bin ganz wie aufgesperrt“. Gedichte. Wunderhorn Verlag, Heidelberg 2011.

48 Seiten, 13,50 €.

Der Dichter ist auch ein Denker, ein poeta doctus, das weiß man von Ernest Wichner, dem Autor und Leiter des Berliner Literaturhauses. Gleich das erste Poem seines neuen Buchs heißt „Dohle“. Noch herrscht Winter, und der Vogel, als lese er die Hinterlassenschaften seiner gefiederten Vorläufer, „geht die Krähenspuren ab im Schnee“: von gestern oder morgen, denn „der Winter (ist) hier keine Jahreszeit“, eher ein Zustand. Aber die Dohle verkörpert auf den Dächern über Berlin nicht nur ein Stück Ornithologie. „Dohle“ ist die deutsche Übersetzung des tschechischen Namens Kafka, und Herr K. wiederum hatte einst im Hotel Askanischer Hof, unweit des heutigen Literaturhauses, einen peinlichen „Gerichtstag“ mit zwei ihm eng verbundenen Frauen erlebt. Auch in der Liebe ist der Winter lang und die Lage nicht einfach.

„Mein Teil war dein Teil minus mein Teil. / Kannst du mir sagen, (…) wo in der Verknotung der Sinne / sich deine Anmut aufhält?“, fragt Wichner in dem Stück „Als ob es Engel gäbe“; er sucht Bilder und Farben der „Wolkenwut“, und stürzte er sich in die eigene Unbegreiflichkeit, dann vergäße er „jenen Doppelsinn und / dass er frech die Zunge dir in den Rachen stößt“. Grazie und Gewalt sind hier nah beisammen im Gefecht der „Leiber mit dem Wurmfortsatz Gehirn“. Nie gibt es das kopflose Versinken, das widerspruchsfreie Gelingen „in dem Gespinst aus Wir, das dir so fremd war wie der Augenblick jetzt mir“. Manchmal lastet die Vertreibung aus dem Paradies der sinnlichen Unschuld auch auf den Worten, auf ihren vielen klugen Wendungen und Windungen. Doch immer wieder schreibt sich der erzählend reflektierende Lyriker auch frei. So frei es eben geht: „Was sie entzweit, verschweigt / der Text, der aber wissen will, dass sie das Glück / ereilte, miteinander restlos abzurechnen.“

Einmal heißt es zu den Verbindungen oder Trennungen von Kunst und Liebe, „Ach aber viel Sehnsucht hab ich // und bin ganz wie aufgesperrt / und zart innen vor Erwartung“. Dieser Ton, eine Variation, ist bewusst erborgt, denn Ernest Wichner hatte die Zeilen auf zwei noch unveröffentlichten „handschriftlichen Zetteln“ aus dem Jahr 1920 im Nachlass des Berliner Schriftstellers, Verlagslektors und Flaneurs Franz Hessel im Deutschen Literaturarchiv Marbach gefunden.

„Ich bin ganz wie aufgesperrt“ lautet nun, als Zitat in Anführungszeichen, der Titel dieser knapp 45 Gedichte und lyrischen Kurzprosatexte. Zigaretten und Züge, auch Zigarettenzüge, spielen da häufig eine Rolle, denn Mann und Frau sind immerfort in Bewegung. Auf einander zu, sich unerreichbar nah bis zur Endstation Sehnsucht. Widerhall reimt sich auf Zerfall, und „Asche mildert die Konturen“. Manchmal hallt da auch ein hoher ferner Ton, wie von Trakl her, bisweilen sonderbar sperrig („Die Uhr aber tickte in uns / ältest verfügbare Minuten herbei“). Doch nicht trostlos klingt das, nur untröstlich. „Ich ... häng mich an Wörter, Verse, den fremden Eigensinn der Poesie, der alles fälscht“, sagt der poetische Eigensinn, „und liebe doch dies Falsche – mehr als dich?“ Die Antwort bleibt offen, was sonst. Peter von Becker

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