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Als Baumwolle noch von Hand geerntet wurde. Pflückerin im Süden der USA in den dreißiger Jahren.

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Anna Lowenhaupt Tsing im HKW: Sing mir den Blues des Anthropozän

Wo der Baumwollkapselkäfer wütet: Die amerikanische Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing sammelt Geschichten für einen "Atlas der Verwilderung". Die Zeitschriftenkolumne

Von Gregor Dotzauer

Die Invasion des Baumwollkapselkäfers reicht zurück bis in die Tiefen des 20. Jahrhunderts. Aus Mexiko machte er sich über Texas bis nach Alabama auf, wo er 1918 die gesamte Baumwollernte vieler Farmer vernichtete. In Enterprise, einer Kleinstadt im Coffee County, erinnert bis heute das Boll Weevil Monument an die Katastrophe. Dutzendfach, von Woody Guthrie bis zu den White Stripes, hat er es auch zu Songehren gebracht, wobei die berühmteste Vertonung von der Blueslegende Leadbelly stammt. Im heimatlosen „Boll Weevil“ spiegelte er die eigene Unbehaustheit.

Weltweit ist er in den riesigen Monokulturen des Baumwollanbaus immer noch der gefährlichste Schädling. Unbesiegt, ja stärker denn je, hat er sich ins Anthropozän gerettet, jene erdgeschichtliche Epoche, „in der die Störungen durch den Menschen alle anderen geologischen Kräfte übersteigen“, wie die im kalifornischen Santa Cruz lehrende Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing in ihrem faszinierenden Wissenschaftsessay „Der Pilz am Ende der Welt – Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus“ (Matthes & Seitz, 448 S., 23,99 €) schreibt. In ihrer Anthropocene Lecture am Haus der Kulturen der Welt (als Video demnächst unter hkw.de und auf YouTube) figurierte der Boll Weevil aber nur als ein Eindringling unter vielen.

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„Feral Atlas“ – so viel wie „Atlas der Verwilderung“ – heißt die multimediale Digitalplattform, die sie gerade für die dänische Aarhus University vorbereitet (anthropocene.au.dk). Eine Sammlung von ökologischen Unglücksfällen, die nicht in der pauschalen Erklärung des Klimawandels aufgehen, sondern auf vielen Ebenen davon erzählen, wie eine teils bewusste, teils durch globalisierte Warenströme unfreiwillig entstehende Umweltzerstörung menschliche und nichtmenschliche Lebensräume unabsehbar verändert. Das Anthropozän, sagt Tsing, folgt keiner Generalerzählung, es ist „patchy“. Das heißt, es zerfällt in eine Vielzahl mehr oder weniger diffuser Räume, in denen sich Faktoren wie die Qualität des Wassers, der Luft und des Bodens auf unterschiedlichen Skalen auswirken. Reiches Material zum Thema im Allgemeinen bietet die vom HKW und dem Berliner Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte betrieben Seite anthropocene-curriculum.org

Wie sich die Schrecken der Entwicklung wiedergeben lässt, ohne dass die, die sie bekämpfen wollen, sich davon gelähmt fühlen, ist dabei eine ihrer Leitfragen. Denn wovon will sie, mithilfe literarischer und künstlerischer Strategien, nicht alles berichten. Von den plastikfressenden Kühen in Indien, die sich von Müll ernähren, bis sie schließlich das Gras verschmähen: Unter der Bezeichnung „Plastic Cows“ sind sie auf dem Weg in die menschliche Nahrungskette ein unmittelbar sichtbares Menetekel des Anthropozäns geworden. Von der aus China und Japan eingeschleppten Wollschildlaus Nipponaclerda biwakoensis, die den weltgrößten Schilfrohrbestand im Mississippidelta des Bundesstaats Louisiana dezimiert.

Oder vom Schadorganismus Phytophthora ramorum, der in den USA für den „sudden oak death“, den plötzlichen Eichentod, verantwortlich ist und sich in den vergangenen 15 Jahren über halb Europa verbreitet hat. Oder von dem Pilz Heterobasidion annosum, besser bekannt als gemeiner Wurzelschwamm, von dem auch die Deutschen ein Klagelied singen können. In der Eberswalder Forstlichen Schriftenreihe ist ein ganzer Band über „Maßnahmen zur Abwehr des Kiefern-Wurzelschwammes in der Bergbaufolgelandschaft Südbrandenburgs“ (PDF unter forst.brandenburg.de) erschienen. Das Wort, bei dem der Anthropozänsensible aufhorcht, heißt Bergbaufolgelandschaft. Es handelt sich ausdrücklich um eine vom Menschen aus dem Gleichgewicht gebrachte Natur, die in ihrer Anpassungsfähigkeit überfordert wird.

Die Todesspur des Salamanderfressers

Auch sonst gibt es einheimische Fälle, mit denen man Tsings Aufforderung, ihr lohnende Studienobjekte vorzuschlagen, Folge leisten könnte. Der spektakulärste ist sicher der aus Ostasien stammende Pilz Bals oder Batrachochytrium salamandrivorans, der tödliche Salamanderfresser. Neben vielen anderen Lurchen befällt er vor allem Feuersalamander. In Belgien und den Niederlanden sind sie schon fast ausgerottet, in der nördlichen Eifel sind sie stark bedroht. „Der Horror im deutschen Wald“ überschrieb Joachim Müller-Jung, der Wissenschaftsredakteur der „FAZ“, seinen alarmierenden Bericht.

Dagegen ist der sich gezieltem Anbau widersetzende Matsutake, ein sündteurer, als Delikatesse geltender Wildpilz, dessen Verbreitung und Handelswegen Anna Lowenhaupt Tsing in ihrem Buch nachgeht, ein freundlicher Geselle. Unfreundlich ist die Umgebung, in der er sich ansiedelt. Er soll das Erste gewesen sein, das in den atombombenverstrahlten Wäldern von Hiroshima wieder wuchs, weil er Kiefern Nährstoffe zuführt, an die sie, auf sich allein gestellt, nicht kommen würden.

In einem Natur- und Geisteswissenschaften zusammenführenden, ebenso rhapsodischen wie faktengesättigten Stil, erzählt Tsing Geschichten von „kontaminierter Diversität“, die den menschlichen Strukturen so viel Platz einräumen wie den nichtmenschlichen. Die Matsutake-Wälder sind für sie „Antiplantagen“ und das „unkontrollierte Leben der Pilze ein Geschenk – und eine Orientierung –, wenn die Kontrolle, die wir über die Welt zu haben meinen, versagt.“

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