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Kultur: Ära der Gründungsgroßväter

Bildungsbürger und Bundespräsident: Peter Merseburgers Biografie über Theodor Heuss.

Wenn Völker ihr Schicksal Großvätern anvertrauen, leben sie in schweren Zeiten und dann hoffen sie auf ein Ende der Wirren und auf eine baldige Stabilisierung durch den Rückgriff auf Altbewährtes. Hindenburg, Pétain, Adenauer und eben auch Theodor Heuss belegen diese These. Die beiden Letzteren waren um Jahre älter als Adolf Hitler – Konrad Adenauer dreizehn und Theodor Heuss sieben Jahre – und wurden dennoch vier Jahre nach dem Selbstmord des „Führers“ im Bunker seine Nachfolger, der eine als Kanzler, der andere als Präsident. Adenauer hatte zu diesem Zeitpunkt bereits seinen 73. Geburtstag gefeiert und Heuss seinen 65. Als sie ihre Ämter verließen, war Adenauer 87 Jahre und Heuss 75 Jahre alt.

Tatsächlich hatte 1949 die Stunde der Gründergroßväter geschlagen. So ist es durchaus stimmig, dass sich Peter Merseburger, der 2008 seinen 80. Geburtstag feiern konnte, nach seinen Biografien über Schumacher, Augstein und Brandt – allesamt Gründerväter der Republik – nun Theodor Heuss als Sujet ausgesucht und eine akribisch recherchierte, gut lesbare und informative Lebensschilderung vorgelegt hat. Allerdings wurde sie vermutlich von einem seiner Enkel lektoriert, denn sie strotzt von kleineren und größeren Fehlern bei Jahreszahlen, Abkürzungen oder Namen. Den preußischen König Wilhelm IV. hat es nie gegeben (gemeint ist wohl Friedrich Wilhelm IV.), Friedrich Meinecke war zwar ein Gründungsvater der Freien Universität in Berlin, aber nicht von Adel und Thomas Dehler wird zwar als FDP-Schlüsselfigur oft erwähnt, aber im unzuverlässigen Namensregister weggelassen. Tja, Heuss, der durchaus pingelig und streng sein konnte, hätte wohl mit seinem schwäbelnden Bass gepoltert: „Des will i so net, des wird richtig gmacht!“

Denn Heuss war zunächst vor allem ein Homme de Lettres, Journalist, Feuilletonist und Zeitungsmann, der eine Unzahl von Texten verfasste, redigierte, korrigierte, in Friedrich Naumanns „Die Hilfe“ bis zur „Rhein-Neckar-Zeitung“, der er nach dem Krieg auch als Herausgeber vorstand. Er war ein Mann des 19. Jahrhunderts, der „großdeutsch“ und schwarz- rot-golden dachte, den Anschluss Österreichs begrüßte, wann immer sich die Möglichkeit dazu abzeichnete. Er war ein schwäbisch-liberaler Bildungsbürgersohn – die Mutter verkauft das Haus nach des Vaters Tod, um alle drei Söhne studieren lassen zu können! – mit einem heute kaum mehr vorstellbarem Fundus. Früh und gut ist Heuss vernetzt im deutschen Bildungsbürgertum von Max und Alfred Weber bis Leo Baeck, Albert Schweitzer und Gustav Stolper, dabei, wie Adenauer, durch und durch zivil und allem militärischen Gepränge abhold.

Auch wenn der Alte aus Rhöndorf erst im letzten Drittel des Bandes die Bühne betritt, sollte man die beiden Biografien gegeneinanderstellen und bei allem Trennenden zwischen dem Machtpolitiker und dem Wortmächtigen immer das Verbindende sehen: den harten, entschiedenen Antitotalitarismus und Antikommunismus, das Annehmen der deutschen Völkerverbrechen („Kollektivscham, aber nicht Kollektivschuld“, sagt Heuss), die Betonung der Freiheit, das „Nie wieder Weimar“, „Nie wieder Hitler“. Nie wieder Krieg? Ja, gewiss, aber eben nur, wenn er von der eigenen Armee ausgelöst wird. Heuss will sogar in den Grundgesetzdebatten das Recht auf Verweigerung verbieten, denn als Demokrat des 19. Jahrhunderts ist ihm die „Levée en masse“ der französischen Revolution republikanisches Ur- und Vorbild.

Das menschlich Verbindende zwischen Heuss und Adenauer, das ihre gemeinsame Basis massiv unterfütterte, wird von Merseburger allerdings kaum thematisiert. Beide sind Witwer. Adenauer hat kurz vor der Kanzlerschaft seine zweite Frau durch Selbstmord verloren – aus Scham darüber, dass sie ihren Mann bei seiner Flucht an NS-Schergen verriet, nachdem die der Tochter Gewalt angedroht hatten –, Heuss muss den Tod von Elly Heuss-Knapp, seiner vertrauten Gefährtin und wichtigsten Kritikerin, kurz nach Beginn der Präsidentschaft verkraften. Gewiss, beide finden mit Anneliese Poppinga und Toni Stolper in den letzten Lebensjahren neue Herzensvertraute, aber der Einschnitt ist dennoch tief und tatsächlich wird, ein bizarres Faktum, im ersten Jahrzehnt die junge Bundesrepublik der Kriegswitwen von zwei Nachkriegswitwern regiert und repräsentiert.

Für diese zwei ist Politik Lebenselixier und Todesvertreib zugleich. Sie sind, trotz eines schwachen Herzen (Heuss) und angegriffener Bronchien (Adenauer), Frühaufsteher, im Amte kaum lange krank, von stupender Schaffenskraft, Belastbarkeit und von für Mitarbeiter wie Gegner zermürbender Ausdauer. Darüber sollte man sich auch bei Heuss durch die Brasil (deren Qualm Adenauer ebenso hasste wie den von Erhards Zigarren) und das Viertele Lemberger niemals täuschen lassen. Beide scheiden eher unwillig aus ihren Ämtern. Heuss hofft bis zur Nominierung von Carlo Schmid durch die SPD noch auf die glückliche Fügung einer Allparteienzustimmung zu einer dritten Amtszeit. Beide sterben vier Jahre nach dem politischen Abschied. Und sie sterben versöhnt: Der große Krach in jener Bundespräsidentenkrise 1959, als Adenauer sich auf dem Wege Charles de Gaulles wähnte und meinte, Heuss habe die Möglichkeiten seines Amtes niemals richtig ausgeschöpft, ist verziehen.

Theodor Heuss hat die Position des ersten Bundespräsidenten nicht angestrebt. Er hat sie in den Beratungen des Parlamentarischen Rates sogar entscheidend abgeschwächt, hat überdies, als es in Bonn darum ging, dem Entwurf des Grundgesetzes, den der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee erarbeitet hatte (der bei Merseburger leider überhaupt nicht erwähnt wird), die endgültige Form zu geben, an vielen Stellen maßgeblich Einfluss genommen über Präambel, die Einführung von Bundesversammlung und konstruktivem Misstrauensvotum hinaus.

Heute wäre Heuss niemals Bundespräsident geworden. Heute dominiert, wie Merseburger immer wieder altersmilde anmerkt, eine schärfere, „kritischere“ Haltung der „nachwachsenden Generationen“ gegenüber Verfehlungen und Verstrickungen in der NS-Zeit. Man kann das auch härter ausdrücken: Heute herrscht die Ignoranz und Arroganz der späten Geburt. Heuss hat im „Dritten Reich“ wie Adenauer in einer gesellschaftlichen „Nische“ überlebt, nicht zuletzt von Robert Bosch als dessen Biograf gefördert und alimentiert, aber auch weil einer seiner ehemaligen Studenten aus der Hochschule für Politik in Goebbels’ Propagandaministerium die Hand über ihn hält und ihm ermöglicht, unter Pseudonym weiter zu publizieren. So kann er etwas verdienen, obwohl Hitler, nachdem er in Goebbels’ Renommierzeitschrift „Das Reich“ den Namen von Heuss entdeckt und einen Tobsuchtsanfall bekommen hatte (weil eben jener Theodor Heuss in der Endphase Weimars eines der ersten kritischen Hitler-Bücher publiziert hatte) und danach wütend verlangt hatte, diesen Namen niemals wieder lesen zu müssen.

Dennoch hat die politische Karriere von Heuss einen Makel: Zusammen mit Reinhold Maier, Ernst Lemmer, Hermann Dietrich und Heinrich Landahl stimmt er im brutal geschrumpften Resthäuflein der Liberalen am 24. März 1933 im Reichstag für Hitlers Ermächtigungsgesetz. Er stimmt damit für die Selbstentmachtung des Parlaments, für das nach der Notverordnung vom 4. Februar und der Reichstagsbrandverordnung „dritte Grundgesetz“ der ersten deutschen Diktatur. Das wäre heute, medial aufbereitet, vermutlich ein Ausschlussargument gegen ihn. Dass die Weimarer Republik zehn Jahre zuvor mit Ermächtigungsgesetzen gerettet worden war, dass Hitler dem Zentrum, bei dem das Häuflein der fünf rückfragte, Garantien gegeben hatte (die später alle nicht eingehalten wurden) und Heuss, der ursprünglich ablehnen wollte, sich vom ehemaligen Reichskanzler Heinrich Brüning (Zentrum) hatte beruhigen lassen – es täte nichts zur Sache. „Heuss“, so würde es heute heißen, „hat Hitler den Weg nach Auschwitz geebnet“.

1949 war seine Wahl aus anderen Gründen knapp. Der Union war Heuss nicht religiös, nicht „schwarz“ genug, hatte er doch das konfessionell geprägte Elternrecht bei der Schulwahl massiv bekämpft und seine Aufnahme ins Grundgesetz verhindert. In der entscheidenden Fraktionssitzung rettet Adenauer seinen FDP-Kandidaten, den er für die Stabilisierung seiner bürgerlichen Koalition benötigt, mit den schönen Worten: „Heuss hat eine religiöse Frau. Das muss genügen.“ So gelangt Heuss ins Amt. An Kabinettssitzungen teilnehmen, den Oberbefehl bekommen, eine neue Nationalhymne einführen möchte er – und scheitert mit allem an Adenauer. Dennoch entwickelt sich Heuss rasch zum „bürgerlichen Landesvater aus dem Bilderbuch“, der wesentlich zur Stabilisierung und Verankerung der Demokratie in der zweiten deutschen Republik beiträgt. Peter Merseburger hat dem Gründungsgroßvater jetzt, ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod, zu Recht ein Denkmal gesetzt.







– Peter Merseburger: Theodor Heuss –

Der Bürger als Präsident. Eine Biographie
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2012. 672 Seiten, 29,99 Euro.

Daniel Koerfer

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