zum Hauptinhalt

Kultur: Architekturphantasien: Phantom Funkturm

Der Berliner Stadtteil Mitte franst nicht an seinen Rändern aus, sondern von seinem Zentrum her. Während die Umzugswelle von der August- in die Zimmerstraße gerade erst begonnen hat, sehen sich die anderen nach alternativen Quartieren um, in denen es noch nicht von Feinkostläden wimmelt.

Der Berliner Stadtteil Mitte franst nicht an seinen Rändern aus, sondern von seinem Zentrum her. Während die Umzugswelle von der August- in die Zimmerstraße gerade erst begonnen hat, sehen sich die anderen nach alternativen Quartieren um, in denen es noch nicht von Feinkostläden wimmelt. Doch die Motive für die Umzüge sind vielfältiger, als es der Exodus vermuten lässt. Die Galerie S. S. K. ("Sammeln Sie Kunst") von Joanna Kamm beispielsweise hatte es satt, in der Linienstraße als Laden für schlechterverdienende Sammler durchzugehen. Deswegen verpasst sich die Junggaleristin nicht nur eine professionelleres Image als "Galerie Kamm", sondern suchte auch einen anderen Standort.

Die neue Adresse befindet sich in der Almstadtstraße in Mitte, einer kleinen Straße am Alexanderplatz. Neben Luxussanierungen und Plattenbauten wurden auch hier schon die ersten schickeren Läden ausgemacht. Sonderlich risikoreich ist der Umzug also nicht. Entscheidend, auch für die Wahl der Premierenausstellung, war nicht der Trendfaktor, sondern die Liebe zum Alex. Vielleicht hätte sonst eine der ebenfalls angesagten "Edelplatten" in der Karl-Liebknecht-Straße den Zuschlag bekommen. Oder die Jannowitzbrücke, die sich die Berlin-Biennale als Event-Ort ausgeguckt hat.

So ist es am Künstler, etwas aufs Spiel zu setzen auf den 70 neuen Quadratmetern Tiefgaragen-Schick. Mit Albrecht Schäfer hat sie ihren einzigen Neuzugang im Programm eingeladen, die erste Show zu veranstalten. Der bedankt sich auch gleich mit einer Ausstellung, die nicht nur die Alexbegeisterung der Galeristin widerspiegelt. Schäfer veranstaltet ein "Was-wäre-wenn-Spiel", das Geschichte und Zukunft des Alexanderplatzes gleichermaßen ins Spiel bringt.

"Ich habe versucht mir vorzustellen, wie der Alexanderplatz aussehen würde, wenn es verschiedene Abweichungen in der Geschichte gegeben hätte" sagt Schäfer. Mit dem Alex thematisiert der Berliner das Spielfeld, auf dem die Mächtigen aus vier deutschen Reichen ihre Machtfantasien auswürfelten - jeweils, indem sie die bestehenden Bauten im Abstand von 30 Jahren sprengten und ihre eigenen Entwürfe hinstellten. Deswegen scheiden sich an diesem zentralen Ort immer noch die Geister. Während er für die einen ein erneut wegzubombendes Relikt aus vergangenen Zeiten, eine "sibirische Leere" (Dieter Hoffmann-Axthelm) symbolisiert, stellt der Alex für die anderen "einen der großzügigsten Stadtfreiräume Europas" (Wolfgang Kil) dar.

Wie dem auch sei: Jedenfalls lässt sich am Beispiel der baupolitischen Barbarei des Alexanderplatzes verstehen, warum Hegel als Illustration seiner Idee der weltgeschichtlichen Negation stets auf die Architektur zurückgriff: Die gebaute Idee, die an einem Ort steht, negiert diejenige, die dort vorher stand. Und das verdeutlicht die "Platz da!"-Mentalität, die am Alex stets regiert hat.

Die Idee seiner Intervention ist denkbar schlicht: Schäfer kopiert per Computermontage die unrealisierten Entwürfe des Alexanderplatzes in bestehende Architekturensembles hinein (1200-7000 Mark). Per Simulation stellt er sich vor, wie der Platz aussehen würde, wenn der Alex 1928 nicht mit Unterstützung der Amerikaner von Peter Behrens bebaut worden wäre. Der Künstler nimmt die Würfel der Geschichte selbst in die Hand und spinnt größenwahnsinnige alternative Geschichten aus; so stellt er sich einerseits vor, dass der Platz zunächst modernistisch, und nach Ulbrichts Wende zu den "Neuen Traditionen" von 1953 stalinistisch bebaut worden wäre. Hingerissen von den Großmachtsphantasien überlegt sich Schäfer in einem zweiten Entwurf, wie der Platz heute aussähe, wenn die Entscheidung zugunsten des Verlierers von 1928, der kein geringerer als Mies van der Rohe war, ausgegangen wäre.

In der Ausführung wirken beide Zaubereien ähnlich unvermittelt und unwirtlich; sie sehen aus wie die bekannten Bauherrensimulationen, die nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft vorwegnehmen. Und doch wird man von der untrüglichen Ahnung beschlichen, dass dies ebenso die Realität sein könnte. Denn Schäfer thematisiert mit seinen Phantasien nichts weniger als die Kontingenz alles Historischen: Die Wirklichkeit ist zwar geworden, wie sie ist; aber es könnte auch ganz anders aussehen. Deshalb baut sich Schäfer nicht einfach seinen Alexanderplatz, sondern er folgt der Vielschichtigkeit alles Historischen, den Phantomen der Geschichte.

Denn der Einsatz jeder historischen Frage ist nichts anderes als die Gegenwart. Schäfer stellt nicht nur zwei Varianten der Geschichte zur Diskussion - im modernistisch-stalinistischen Szenario würde er heute unter Denkmalschutz stehen; hätte Mies van der Rohe den Platz bebauen dürfen und Daniel Libeskind - und nicht Hans Kollhoff - den Wettbewerb von 1993 gewonnen, hätten wir heute am Alex ein Euroforum stehen, das der DDR-Moderne hätte Gnade vor Geschmack widerfahren lassen. Doch Schäfer stellt noch mehr als zwei Varianten der Geschichte vor; am Kreuzweg des Historischen übt er auch Kritik an der aktuellen Praxis der Bauvergabe. Denn der tatsächliche Bonus des Galerieumzugs wird sich erst noch erweisen: Wenn man von der Almstadtstraße aus die Berliner Skyline am Alexanderplatz wird sehen können, mit deren Bau noch in diesem Jahr begonnen werden soll.

Knut Ebeling

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false