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Foto: Bill Hayes

© Bill Hayes

Arte-Doku über Oliver Sacks: Patient als Mitmensch

Vom Leben auf anderen Bewusstseinsebenen: Ein Arte-Film porträtiert den Neurologen und Schriftsteller Oliver Sacks.

Wie fühlt es sich wohl an, eine Fledermaus zu sein? Darüber hat Oliver Sacks intensiv nachgedacht. Der britische Regisseur Ric Burns blickt in seinem Porträtfilm zunächst auf eine Phase der boomenden Apparatemedizin während der 1960er Jahre zurück. Der Patient war zu dieser Zeit hinter Zahlen und Statistiken verschwunden. Falldarstellungen galten als überholt. Gegen diesen Trend ließ Oliver Sacks die Krankengeschichte in der literarischen Tradition des 19. Jahrhunderts wieder aufleben.

Der Schlüssel zu seinem Erfolg: seine phänomenale Empathie. Lebhaft vor Augen führt der Film, dass Sacks' einfühlsamer Blick auf Patienten mit teils skurrilen Störungen und Ticks in der wechselvollen Lebensgeschichte dieses Außenseiters wurzelt.

Schon als Kind musste er miterleben, wie sein Bruder Martin schizophren wurde. Die Mutter, eine der ersten Chirurginnen Englands, brachte einen toten Fötus mit nach Hause „und schlug vor, dass ich ihn sezierte“. („Oliver Sacks – Sein Leben“, Arte, Samstag, 22 Uhr)

Zu schaffen machte dem jungen Mann aus jüdisch-orthodoxer Mittelstandsfamilie später die Schwulenfeindlichkeit in England der 1950er Jahre. „Ich war wütend auf diese scheiß homophobe Gesellschaft.“ Die Flucht nach Kalifornien erwies sich als zweischneidig. „Ich konnte dem Ruf der Amphetamine nicht widerstehen.“ Zugedröhnt raste er mit seiner BMW durch die Nacht, bis er das Gefühl hatte, „eine Linie auf der Erdoberfläche zu zeichnen“.

Auch beruflich lief es in dieser Phase nicht rund. Sacks peilte zunächst eine Karriere im Labor an. In den Augen seiner medizinischen Kollegen galt er jedoch als „der ultimative Versager“. Man legte ihm nahe, mit Patienten zu arbeiten – da könne er keinen Schaden anrichten.

Hat er nur den Verstand verloren?

Der verschmähte Neurologe machte aus dieser Not eine Tugend. In den 1960er Jahren stieß er in einem Krankenhaus in der Bronx auf eine Reihe eigenartiger Pflegefälle. Sacks fand heraus, dass diese Patienten in den späten 1920er Jahren von der Europäischen Schlafkrankheit infiziert worden waren. Über Jahrzehnte hinweg vegetierten sie in einem somnambulen Dämmerzustand dahin.

Die Behandlung mit L-Dopa, einer Vorform des Neurotransmitters Dopamin, ließ diese bedauernswerten Menschen wie Lazarus zeitweise aus ihrer todesähnlichen Erstarrung zurückkehren: eine Sensation, die in der Fachwelt auf großes Interesse und noch größere Skepsis stieß.

Der Titel seines berühmtesten Buches ist in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen. 1985 beschrieb Sacks einen „Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“. Dieser Musiklehrer, der übrigens auch einen Hydranten streichelte, weil er ihn für ein Kind hielt – hat er nur den Verstand verloren? Oder lebt er vielleicht auf einer anderen Bewusstseinsebene? Mit solchen Fragen erweiterte der Neurologe die Perspektive auf den menschlichen Geist.

Anfang 2015 erfuhr Sacks, dass ihm aufgrund seiner fortgeschrittenen Krebserkrankung nur noch wenige Monate blieben. Kurze Zeit später gab er Ric Burns in seiner New Yorker Wohnung eine Reihe von Interviews, die das Herzstück dieses Films bilden. Es ist der bewegende Abschied eines Mannes, der über seinen bevorstehenden Tod spricht, als wäre dieser eine weitere Fallgeschichte. Es sollte seine letzte werden.

Manfred Riepe

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