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Mitch Campbell (Jason Schwartzman) und sein Schwiegervater (Tom Hanks) suchen eine gemeinsame Sprache.

© Pop. 87 Productions/Focus Features

„Asteroid City“ im Kino: Das Atomzeitalter strahlt bonbonfarben

Wes Anderson inventarisiert in „Asteroid City“ seine ganz persönliche Vorstellung der 1950er Jahre. Dabei kommt ihm wieder mal ein Staraufgebot zu Hilfe.

Von Kerstin Decker

Heimat ist ein einfaches Wort. Es scheint auf Natürliches, Unkompliziertes, Elementares zu weisen, in jedem Fall auf eine ganz und gar unkünstliche Welt, mit der uns tausend Seelenfäden verbinden. Seltsamerweise kann man auch in den Filmen von Wes Anderson zuhause sein, und das sind überaus künstliche, nichtelementare, vertrackte Welten. Noch nie aber hat Anderson uns in einem so künstlichen Universum ausgesetzt wie diesmal in Asteroid City.

Im Wüstenexpress zum Meteoritenkrater

Der Ortsname steht im Vorspann auch noch in Anführungszeichen, und für alle, die diesen Hinweis auf tendenzielle Nichtexistenz noch nicht ganz verstanden haben, gibt es – gewissermaßen als Rahmen der Rahmenhandlung in Schwarz-Weiß – noch einen Moderator, der ausdrücklich erklärt, dass Asteroid City nie existiert hat.

Trotzdem fahren wir schon im nächsten Augenblick dorthin, mit einem Wüstenexpress, der neben gewöhnlichen Reisenden auch Pekannüsse und Atomsprengköpfe mitführt. Schließlich befinden wir uns in den 1950er Jahren, da waren Atombombentests gewissermaßen Alltag, erst recht in der amerikanischen Wüste.

Und genau dort liegt Asteroid City, was auch ein diskreter Atompilz im Hintergrund andeutet. Im Übrigen erscheint diese ganze Wüstenwelt mitsamt Stadt – also Diner mit 12 Hockern plus Tankstelle plus 87 Einwohner – in giftig rosa-blau-gelben Bonbonfarben, dem Farbideal der Fünfziger. Was für ein nukleares Puppenhaus.

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Vielleicht ist es nicht falsch, auch diese Kritik im Stil des Films zu halten. Und das ist der Gestus nüchternster, frontaler Bestandsaufnahme, wodurch insbesondere die Kamera auffällt: Ohne jedes Eigentemperament scheint sie jedes Ding, worauf ihr Blick fällt, zu inventarisieren und zu nummerieren. Seltsamerweise ist das höchst unterhaltend. Ein Teil dieser Kulissenwelt wurde wie schon bei „Isle of Dogs“ in den Studios von Babelsberg hergestellt.

Kongress für den Astronauten-Nachwuchs

Die eigentliche Attraktion von Asteroid City ist ein Krater, der jedoch nicht von einem Atomwaffentest herrührt, sondern vom vorgeschichtlichen Einschlag eines riesigen Asteroiden. Das ist 3000 Jahre her. Die wissenschaftliche Betreuung des Kraters obliegt gerade einer Astronomin, der Tilda Swinton ein unbeugsames akademisches Temperament verleiht. Im Augenblick betreut sie junge, begabte Sternenforscher, die gemeinsam ein seltenes Phänomen am Himmel beobachten möchten, denn auch die Weltraumbegeisterung gehört zu den 1950er Jahren.

Es ist gewissermaßen ein Kongress für künftige Astronauten in Begleitung ihrer Eltern, lebendig oder tot. Letzteres trifft vor allem für den zwölfjährigen Woodrow zu, denn sein Vater – ein leicht neben sich stehender Kriegsreporter – hat ihm und seinen Geschwistern eben erst erklärt, dass ihre Mutter bereits vor drei Wochen gestorben ist. Den Beweis hält er in der Hand: eine Tupperdosen-Urne.

Schaulaufen der Stars in der Anderson-Wüste

In der Regel wirken die Kinder hier viel akademischer als ihre Eltern, die Mädchen mit einer entschiedenen Tendenz ins Ungute. Im Animationsfilm „Isle of Dogs“ liehen die bekanntesten amerikanischen Schauspieler den Hunden ihre Stimmen, hier in der Anderson-Wüste ist ein unglaubliches Staraufgebot versammelt, von Scarlett Johansson über Adrien Brody und Jeff Goldblum bis zu Tom Hanks.

Tragokomische Figuren in der Wuste: Steve Carell (links) und Liev Schreiber (rechts).
Tragokomische Figuren in der Wuste: Steve Carell (links) und Liev Schreiber (rechts).

© Pop. 87 Productions/Focus Features

Anderson hätte so viel Prominenz gewiss niemals bezahlen können, weshalb alle zum Mindestlohn der amerikanischen Schauspielergewerkschaft für ihn spielten: 4000 Dollar pro Woche.

Die örtliche Fauna wird von einem Vogel vertreten, der genauso viel Raum bekommt wie die Fauna Hollywoods und von dem sich – nach seinem Äußeren zu urteilen – schwer sagen lässt, ob er kürzlich selbst in einen Atombombenversuch geraten ist oder ob es sich um den letzten Vertreter einer Lebensform handelt, die sich nach dem Einschlag des Asteroiden entwickelt hat.

Mag sein, der aufmerksame Leser, die aufmerksame Leserin vermisst an dieser Stelle ein Wort über die Handlung. Da wird es kompliziert, denn es ist wie fast immer bei Wes Anderson: Einerseits geschieht unglaublich viel – wie auch alle Beteiligten sehr schnell sprechen, um das Pensum zu schaffen –, andererseits passiert streng genommen nichts. Menschen, denen dieser Befund unbefriedigend vorkommt, sind bei Wes Anderson möglicherweise im falschen Film.

Ein Außerirdischer taucht auch noch auf

Obwohl es natürlich eine glatte Lüge ist, dass nichts passiert: Ein Außerirdischer erscheint und nimmt den Rest-Asteroiden mit! Mehr an Handlung ist kaum denkbar. Und was für ein Außerirdischer! Allein um den zu sehen – seine schlichtweg außerirdische Eleganz, die von Verlegenheit kaum zu unterscheiden ist – lohnt den Besuch dieses Films. E.T. war eine sentimentale Albernheit dagegen.

Dinah (Grace Edwards) lässt sich von ihrer Mutter (Scarlett Johansson) zum Talent-Wettbewerb in Asteroid City begleiten.
Dinah (Grace Edwards) lässt sich von ihrer Mutter (Scarlett Johansson) zum Talent-Wettbewerb in Asteroid City begleiten.

© Pop. 87 Productions/Focus Features

Allerdings hat der Besuch des Aliens auch Konsequenzen für die jungen Sternenforscher und ihre Eltern. Über diese ganze Atombomben-Bonbonwelt mitsamt Diner und Tankstelle wird kurzerhand Quarantäne verhängt. Menschen zeigen gemeinhin bei zwei Gelegenheiten stärkste Unverträglichkeitsreaktionen: Wenn sie nicht dahin kommen, wohin sie wollen, und wenn sie nicht da wegkommen, wo sie sind. 

Wunderbar, wie sich der kinderreiche Kriegsreporter (Jason Schwartzman) und die Schauspielerin mit hochbegabter Tochter (Scarlett Johansson) von Bungalowfenster zu Bungalowfenster, von Missverständnis zu Missverständnis, näher kommen. Wie nach fast jedem Wes-Anderson-Film weiß man hinterher gar nicht so genau, was man da eigentlich gerade gesehen hat. Aber das stört nicht.

Wie da einer aus lauter Versatzstücken der wirklichen Welt seine eigene höchst surreale, anarchische schaffen kann – allein das wirkt befreiend. Aber ob der Regisseur im nächsten Film noch mehr Ebenen und Metaebenen aufmachen, in noch künstlichere Welten emigrieren kann, ohne dass ihm alles auseinanderfällt, scheint fraglich. Mag sein, Wes Anderson ist auf seinem ganz persönlichen Gipfel angekommen.    

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