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Kultur: Atatürks wahrer Enkel

Zärtlicher, zorniger Weltschriftsteller: Yasar Kemal feiert seinen 80. Geburtstag

Von Caroline Fetscher

Wer den großen, alten Mann der türkischen Literatur trifft, Yasar Kemal, der heute vor achtzig Jahren zur Welt kam, glaubt einem ebenso mächtigen wie gelassenen Patriarchen zu begegnen. Seine Sprache ist bedächtig, sein Duktus gleicht dem eines Mannes, der sich Zeit zu nehmen gewohnt ist. Doch Kemal, der 1997 den Friedenpreis des Deutschen Buchhandels bekam, und von seinem Laudator Günther Grass als Menschenrechtler gefeiert wurde, ist alles andere als ein autoritärer „Osmane“ oder Pascha. Vielmehr ist er ein Weltschriftsteller, ein zärtlicher und zorniger.

Wo Kemal über ein Dorf schreibt, meint er den gesamten Kosmos. 1923 als Kemal Sadik Goegkceli im „Armenhaus Anatolien“ geboren, lernte er als einziges Kind in seinem Dorf Lesen und Schreiben. Er arbeitete auf Baumwollfeldern, als Ziegenhirte, in der Fabrik und als Traktorist. Mit seiner rostigen Schreibmaschine half er analphabetischen Bauern Briefe und Bittgesuche zu schreiben. Als Reporter zog er ein Dutzend Jahre lang durch sein Land und schrieb über Ausbeutung und Elend Sozialreportagen – ein bis dahin unbekanntes Genre in der Türkischen Medien. Elia Kazan, der unlängst verstorbene Filmregisseur, hat einmal über Kemal gesagt: „Er ist ein Geschichtenerzähler der ältesten Tradition, der homerischen. Er spricht für Leute, die selber keine Stimme haben.“

Seine eigene Stimme hatte sich Kemal im wortwörtlichen Sinn erorbern müssen. Im Alter von fünf Jahren verlor der Junge das Sprechvermögen, nachdem er mit ansehen hatte müssen, wie sein Vater ermordet wurde. In „Der Baum des Narren“, 1997 – wie alle seine Werke auf deutsch im Zürcher Unionsverlag – erschienen, erzählt Kemal, bei Gesprächen mit Alain Bosquet, seine Kindheit wie seinen Weg als Autor.

Berühmt wurde Yasar Kemal ab 1955 durch „Memed mein Falke“, die poetische Saga eines türkischen Robin Hood. Aus einem mageren Bauernkind wird ein Rebell und Rächer der Unterdrückten, ein Tyrannenmörder und Rächer, der am Ende seiner Mission die Liebe sucht. In 40 Sprachen übersetzt ist die Memed-Trilogie vor allem in der Türkei Legende, wo man sie sogar in Kaffehäusern vorgelesen hat. Von Arbeitsmigranten auf den Baumwollfeldern handelt Kemals „Der Wind aus der Ebene“, von gestrandeten Existenzen am Rande der Großstadt Istanbul sein Roman „Auch die Vögel sind fort“. 2001 erschien „Die Ameiseninsel“, ein Versuch, sich als Romancier dem türkisch-griechischen Konflikt zu nähern.

Kritiker reagierten skeptisch auf einen Mangel an politischer Analyse – Kemal ist, meistens, ein eher träumerischer Erzähler, der seinen Stil auch der „Oral History“ verdankt. „Als ich mit siebzehn Jahren die westliche Literatur entdeckte“, sagt er, „Balzac, Stendhal, Verlaine, Rimbaud, Tschechow, Dostojewski, kam ich vom Gedanken nicht mehr los, für mich eine neue Form des schriftlichen Erzählens zu schaffen, ausgehend von einer Sprache, die den immensen Reichtum des anatolischen Kulturraumes. Nicht zuletzt dank der jahrhundertlang frisch und lebendig gebliebenen mündlichen Erzähltradition – widerspiegeln würde.“

Doch Yasar Kemal ist auch ein Autor, der in der politischen Debatte ein Lieblingswort kennt: Demokratie. Hier ist er der wahre Enkel und Erbe, den sich Kemal Atatürk, der laizistische Reformer der Türkei, gewünscht hätte. An seinem Staat, der modernen Türkei, die so alt ist, wie der Autor selbst, hat Kemal gelitten, protestiert und die Kurdenpolitik Ankaras öffentlich kritisiert. Über die Schriftsteller seiner Generation sagt er: „Es gibt praktisch keinen, der nicht durchs Gefängnis gegangen ist. Ich selbst war dreimal im Gefängnis. Das erste Mal mit 17 Jahren, dann wieder 1950, als ich gefoltert wurde. 1971 wurde ich wieder festgenommen, aber nach vielen internationalen Protesten wieder freigelassen. Es gibt keinen Zweifel – das Gefängnis ist die Schule der türkischen Gegenwartsliteratur.“

1996 besuchte er Hungerstreikende in einer Haftanstalt, und warf westeuropäischen Regierungen Blindheit für die Verletzung Menschenrechte in der Türkei vor. Günther Grass erklärte als Laudator im Sinne Kemals: „Wir dulden ein so schnelles wie schmutziges Geschäft. Ich schäme mich meines zum bloßen Wirtschaftsstandort verkommenen Landes, dessen Regierung todbringenden Handel zulässt und zudem den verfolgten Kurden das Recht auf Asyl verweigert.“ Der weise Alte, der seit 1996 mit seiner Frau im Exil in Schweden lebt, wird Grass noch immer zustimmen, und weiter fordern, dass sich Regierungen offen und mutig äußern. Worte sind mächtig gegen die Mächtigen, weiß Kemal. Daher sein Leitmotiv: „Der Mensch ist worthaft.“

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