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Der tasmanische Schriftsteller Kyle Perry

© Graham King/Atrium Verlag

Kyle Perrys Roman "Die Stille des Bösen": Auf dem Berg der tasmanischen Geister

Actionreich, gegenwärtig, sozialrealistisch: „Die Stille des Bösen“, ein Thriller des tasmanischen Autors Kyle Perry.

Eine grausige Legende scheint sich zu bewahrheiten, als vier Teenagerinnen im australischen Busch verschwinden. Dabei drängt sich sofort der Gedanke an „Picknick am Valentinstag“ auf, Peter Weirs traumwandlerischen Spielfilmklassiker von 1975, in dem vier Schülerinnen aus einem viktorianischen Mädcheninternat abhandenkommen.

Doch der Vergleich hält nicht lange. Kyle Perrys Thriller „Die Stille des Bösen“ ist actionreicher, gegenwärtiger, sozialrealistisch; trotz des Mysteriums um den Hungermann, eine geheimnisvolle Gestalt, die jeden entführt, der es wagt sie anzusehen.

Seit in den achtziger Jahren fünf Mädchen aus Limestone Creek verschwunden sind – lediglich ein Paar ordentlich gebundene Schuhe wurde auf einer Klippe gefunden – gilt das Thema in der tasmanischen Kleinstadt am Fuße der Great Western Tiers als Tabu. Nur die angesagte Mädchenclique um YouTube-Star Madison schürt die Legende. Bis die vier beim Campingausflug der Highschool selbst verschwinden.

In der Polizeiwache von Limestone Creek gibt es zwei Zimmer für Gäste: Den fensterlosen Verhörraum, der eher einer Zelle gleicht. Und einen lichtdurchfluteten Raum mit Sofa und Grünpflanzen. Hier werden die schlechten Nachrichten überbracht, psychologische Betreuung angeboten.

Ambivalente Figuren

Die Grenzen zwischen Opfern, Tätern, Ermittlern verlaufen in diesem Debütroman fließend, und manchmal ist unklar, wer hier wirklich eine Therapie braucht. Vielleicht liegt es daran, dass der tasamanische Autor Kyle Perry Sozialarbeiter war, bevor er zu schreiben begann. Engagiert macht er sich in „Die Stille des Bösen“ daran, Stereotype erst zu umreißen und sie dann sauber zu dekonstruieren.

Er holt Traumata ans Licht, erforscht Motive und zeichnet zutiefst ambivalente Figuren, die den Leser mit eigenen Vorurteilen konfrontieren: Man bewundert sie – und möchte ihnen im nächsten Augenblick nur zu gern eine runterhauen.

Als leitender Ermittler reist derweil Detective Con Badenhorst aus Sydney an. Er ist Experte für Ritualmorde und Kindheitstraumata, in Gedanken noch ganz bei den Leichen aus einem früheren Fall. Den Tasmaniern tritt er mit großstädtisch arroganter Attitüde gegenüber und tatsächlich lässt das Städtchen Limestone Creek kein Klischee aus: Der Sportlehrer ist auf Steroiden, der Dorfbulle korrupt, der örtliche Drogendealer weiß am besten über die Abgründe seiner Nachbarn bescheid. Im Grunde klingt das nach dem Figurenensemble einer Telenovela.

Rechnet man dazu die sich zunehmend überschlagenden Ereignisse und die nicht durchweg glaubwürdig verlaufenden Ermittlungen, ist es gar nicht so leicht, in diesem Roman den Überblick zu bewahren. Andererseits ist fehlender Orientierungssinn im tasmanischen Nordwesten ein ausgesprochen passendes Problem. Selbst Ortskundige drehen sich hier drei Mal im Kreis und können danach nicht mehr sagen, aus welcher Richtung sie gekommen sind.

Sanfter Schauder im Busch

Der Busch beginnt direkt hinter den Grundstücken, und seine spezifische Geräuschkulisse dient Kyle Perry dazu, sanften Schauder zu erzeugen: das Zirpen der Schwalbenstare, das Knurren der Tasmanischen Teufel, das Rascheln der Kupferblatt-Scheinbeere.

Wenn sich dann noch ein Mob vor dem Polizeipräsidium versammelt und den Hauptverdächtigen zu lynchen droht, ist der Provinzgrusel perfekt.

Wie Kyle Perry immer wieder diesen schwelenden Konflikt zwischen den unmittelbar mit dem Fall Befassten und der zuweilen heftig agitierten Öffentlichkeit zeichnet, gehört zu den besonders zeitgemäßen Beobachtungen seines Romans.

Einmal ruft Madison ihre YouTube-Follower zur Mithilfe bei der Suche nach ihren Freundinnen auf, das Nest verwandelt sich innerhalb von Stunden in eine Art pervertiertes Festivalgelände voller selbsternannter Fahndungsexperten. Wer über eine Plattform verfügt, wer das Narrativ bestimmt, droht hier immer auch ins Visier eines voreilig urteilenden Korrektivs zu geraten.

Nicht, dass Limestone Creek eine Form der Aufsicht nicht gebrauchen könnte: Madisons Frust, dort als Mädchen ständig unterschätzt zu werden, arbeitet Kyle Perry ebenso heraus wie das berechtigte Misstrauen der lokalen Aboriginalgemeinde gegenüber der Polizei. Kooparoona Niara nennen sie den Gebirgszug, den Berg der Geister, das Tor zum Herzen Tasmaniens. Wer es durchschreitet, wird sehen, dass nichts bleibt wie es war.

Katrin Doerksen

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