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Kultur: Auf dem Tanzboden des Lebens

Das szenische Experiment „Der Tanzpalast“ in der Reithalle an der Schiffbauergasse

Er sucht den großen Auftritt, sie trägt ein erwartungsschwangeres Lächeln auf dem Gesicht. Und er dort drüben am Tisch? Möchte er noch einmal das Leben spüren oder dem eigenen Alltag entfliehen? In jedem Fall sind sie alle Teil einer Tanzsaalszenerie, aufgebaut in der Potsdamer Reithalle auf dem Gelände der Schiffbauergasse. Hier hat am Samstagabend das szenische Experiment „Der Tanzpalast“ seine Premiere, das – in Anlehnung an Ettore Scolas „Le Bal“ – einen Abend in einem Tanzlokal inszeniert. Dabei treffen Schauspieler des Hans Otto Theaters auf Tänzer der Oxymoron Dancecompany, Männer auf Frauen, Jung auf Alt, Poser auf Mauerblümchen.

Was im ersten Moment eine Ballsaalatmosphäre suggeriert, lässt den Zuschauer schon bald an den „Tanzboden des Lebens“ denken, auf dem sich hochkomplexe Beziehungsgeflechte abspielen. Noch allerdings ist die schlichte Kulisse aus Kaffeetischen und Stühlen, erleuchtet von drei altmodischen Kronleuchtern, nicht mit Leben gefüllt. Ein Kellner geht langsam seinen Pflichten nach, im Hintergrund leise Musik aus der Konserve, per Video wird dem Zuschauer Kaffeehausatmosphäre vermittelt. Das lässt vielleicht kurz stutzig werden, denn der Ausblick, der sich bietet, ist eindeutig von Tageslicht erfüllt und untergräbt ein wenig die Imagination einer durchtanzten Nacht.

Ganz plötzlich ist er da, der erste Gast, eine Frau in fortgeschrittenem Alter, gespielt und getanzt von Sabine Scholze, die noch einmal ihren Auftritt fordert. Eine kleine Livekapelle in der Ecke der Bühne fängt leise an zu spielen und Timo Draheim in der Rolle des Kellners hofiert seinen Gast ganz nach Wunsch. Dann geht es Schlag auf Schlag und ähnlich wie auf einer Showbühne betreten die Protagonisten den Saal. Forsch oder Schüchtern, naiv oder lasziv mustern und taktieren sie sich gegenseitig und provozieren sofort die Spekulation: wer mit wem?

Denn dass es hier – anders als bei Ettore Scola, der mit seinem „Le bal“ eher politische Ansätze verfolgte und mithilfe weniger Mittel den Zeitgeist von 1936 bis 1983 einfing – um Zwischenmenschliches vom Suchen und Finden, Anbändeln oder Ausbrechen geht, ist sehr schnell klar. Dabei greifen die künstlerische Leiterin Anja Kozík und der Dramaturg Remsi Al Khalisi auf schauspielerische ebenso wie auf tänzerische Mittel zurück. So verliert das oft stark Abstrakte des Tanzes ein wenig seine Schwere und macht einer schneller zu erfassenden Bedeutungsebene Platz.

Das Stück konfrontiert seine Zuschauer nicht nur mit den Schwierigkeiten der tatsächlichen, körperlichen Kontaktaufnahme, sehr schön umgesetzt von Agnes Wradidlo und Holger Bülow, die sich anziehen, abstoßen und umeinanderwinden, ehe sie sich tatsächlich berühren und aufeinander einlassen.

Auch das Alter und die sexuelle Zerrissenheit werden aufgezeigt. Helmut G. Fritzsch nimmt unauffällig seinen Ehering ab, als er das Lokal betritt. Fasziniert von der Jugend Christine Joy Ritters fordert er diese zum Tanz und schnell wird klar, dass es hier kein gemeinsames Tempo und keinerlei Sensibilität für den Anderen gibt. Zu Beginn etwas steif, erhöht er plötzlich das Tempo, aber sie versteht ihn nicht. Wie eine Puppe hängt sie in seinen Armen und wird über die Tanzfläche geschleudert.

Vom klassischen Folgen und Führen und dem nötigen Kontakt kann hier keine Rede sein und es ist faszinierend, wie man auch diese Szene ins große Ganze übertragen kann, weil man in ihr spürt, dass die menschlichen Beziehungen ein Machtgefüge sind, in dem die Partner ihre Kräfte messen, ihren eigenen Tanz tanzen und versuchen, einen gemeinsamen Rhythmus zu finden. Und da dieser Versuch hier augenscheinlich misslingt, zieht es Fritzsch zum nächsten Tisch und plötzlich findet er sich in den Armen eines androgynen Jungen, getanzt von Dennis Dietrich. Hier erkennt man plötzlich das wirkliche Lebensdrama. Die Chemie scheint zu stimmen, doch Fritzsch stößt den Jungen angstvoll zurück.

Eine sensibel eingebaute Szene, die dem Gesamteindruck ein weiteres psychologisch interessantes Detail hinzufügt und den „Tanzpalast“ zu einer runden und sehr gelungenen Inszenierung macht. Es lässt sich nicht nur enorm viel lesen aus jeder Szene, auch die Musik, von klassisch angespieltem Tango über elektronische Klänge bis hin zum Discosound ist hervorragend, gerade auch in ihrem sparsamen Einsatz. Das tänzerische Talent des Schauspielers Jan Dose oder das äußerst überzeugende Minenspiel von Maite Finke, die ihrem Charakter etwas stark Verträumtes und Naives gibt, begeistern das Publikum, das die Protagonisten am Ende jubelnd immer wieder an den Bühnenrand ruft, um sie zu beklatschen.

Andrea Schneider

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