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Kultur: Auge und Schatten

Sie wollte nicht Menschen die Hand geben, die nur nach ihr griffen, weil diese Hand einst auch Adolf Hitler geschüttelt hatte, zuletzt Minuten vor seinem Selbstmord im Bunker der Reichskanzlei. Andere haben ihre Zurückhaltung, die man auch Scham, Stolz und Demut nennen kann, voller Diskretion respektiert.

Sie wollte nicht Menschen die Hand geben, die nur nach ihr griffen, weil diese Hand einst auch Adolf Hitler geschüttelt hatte, zuletzt Minuten vor seinem Selbstmord im Bunker der Reichskanzlei. Andere haben ihre Zurückhaltung, die man auch Scham, Stolz und Demut nennen kann, voller Diskretion respektiert. Christian Uhde etwa, heute Oberbürgermeister, der in Schwabing im Haus gegenüber von Traudl Junge aufwuchs und sich schon als wissbegieriger Zehnjähriger von Hitlers Ex-Sekretärin erzählen ließ, wie das war, so jung, mit Anfang zwanzig, und politisch naiv die letzten zweieinhalb Jahre des Hitlerreichs zu erleben: in Berlin, auf dem Obersalzberg, während des Juli-Attentats 1944 in der ostpreußischen "Wolfsschanze" und dann der Höllensturz, dort, wo nebenan jetzt das Berliner Holocaust-Mahnmal entsteht. Diesen Sonntag hatte Hellers Film-Interview mit Hitlers Ex-Sekretärin auf der Berlinale Premiere, "Im toten Winkel", ein großes Dokument. Und heute Abend wollte Traudl Junge im Münchner Literaturhaus zusammen mit Uhde, mit Heller und der Autorin Melissa Müller auch selbst vor ein kleineres Publikum treten. Es ging um Junges schon 1947 verfasste, nie veröffentlichte und von Müller nun mit dokumentarischem, essayistischem Material vorzüglich edierte Erinnerungen ("Bis zur letzten Stunde. Hitlers Sekretärin erzählt ihr Leben", im Claassen Verlag). Kein Nostalgiestück, sondern ein Buch der gänzlich uneitlen, präzise-aufmerksamen Beobachtung. Eine junge Frau gerät ins stille Auge eines Jahrhunderttaifuns - und berichtet darüber ohne den Filter der Rechtfertigung oder Empörung. Sie legt nur Zeugnis ab. Das Entsetzen, die Trauer folgen später. Merkwürdig aber, dass die Metapher vom stillen Auge sich auch in der Mediengesellschaft wiederholt: Spät erst hat man diese Zeitzeugin, das Gegenbild einer Leni Riefenstahl, wirklich erkannt. Sonntagnacht, ein paar Stunden nach der Berliner Filmpremiere, ist sie, wie gemeldet, in einem Münchner Krankenhaus gestorben. Hellers Film und Junges Buch gehören ab jetzt zu unserer Erbschaft.

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