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Kultur: Aus allen Poren

Wieviel Exhibitionismus gehört zur Freiheit der Literatur? Zum juristischen Streit um die neuen Romane von Maxim Biller und Alban Nikolai Herbst

Was sollen und dürfen Schriftsteller (Maler, Filmemacher), wenn sie nicht andere Künstler plagiieren wollen, abschreiben und abbilden, wenn nicht das Leben – ihr eigenes und das ihrer Umgebung? Und wie müssen sie dabei verfahren? Müssen sie ihrer verschleierten oder nackten Maja einen anderen Kopf aufsetzen, wie es die skandalträchtigen Künstlerromane des Fin de Siècle suggerierten. Die Dame der Gesellschaft, die Geliebte als Aktmodell, nicht jeder Maler hat wie Toulouse-Lautrec seine Modelle unter den Grisetten und Prostituierten gesucht.

Beginnen wir anekdotisch, mit den Beispielen der üblichen Verdächtigen. Als die Klatschkolumnistin Edda Hopper in einer Voraufführung Orson Wells Film „Citizen Kane“ ansah, da war sie im Namen ihres Chefs, des Pressezaren William Randolph Hearst, entsetzt. War das nicht sein Porträt, das sie dort auf der Leinwand erblickte? Vor allem störte, dass der Zeitungsmagnat Kane für seine Geliebte, eine unbegnadete Opernsängerin, eine eigene Oper bauen ließ und seinen Kritiker feuerte, weil der den erwarteten Lobeshymnus nicht lieferte. Hearst selbst war mit der nicht sonderlich erfolgreichen Filmschauspielerin Marion Davies liiert und versuchte, ihre Filme zu protegieren. Vergeblich. Das war 1941. Hearst ist gegen „Citizen Kane“ nicht juristisch vorgegangen. Das hatte er nicht nötig. Er ließ den Film durch alle seine Zeitungen totschweigen. Dem Ruhm des Films hat das keinen Abbruch getan. Dem Kassengeschäft schon.

1986 lief im deutschen Fernsehen Helmut Dietls herrlich leichtsinnige München-Satire „Kir Royal“, ein Abbild der Münchner Bussi- und Mediengesellschaft, in der, wer nur wollte, Minister und den Ministerpräsidenten, Reiche und Promigeile, Klatschreporter und Mediengrößen wiedererkennen konnte. Vor allem Ruth Maria Kubitschek spielte hinreißend eine Münchner Boulevardzeitungsverlegerin, die Dietl der Liebe und auch dem Spott der Öffentlichkeit preisgab.

Wie er denn vermieden hatte, dass das illustre, jedem bekannte Vorbild gegen das Werk juristisch vorgegangen sei, fragte ich Dietl danach – und er hat, halb im Scherz, halb im Ernst, erklärt, da gebe es zwei Tricks. Einmal habe er seiner Heldin Krampfadern zugeschrieben. Und welche schöne Frau im wirklichen Leben klage schon, sie habe sich dabei wiedererkannt. Zweitens habe er seine Verlegerin ihr reales Vorbild, Anneliese Friedmann, im Filmdialog ausdrücklich grüßen lassen. Da könne sie doch nicht mehr die sein, der sie Grüße ausrichtete.

Dazu ließe sich der, allerdings gegen die politische und nicht gegen die private Zensur gerichtete Satz des polnisches Satirikers Stanislav Jerzy Lec anführen: „Satiren, die der Zensor versteht, werden mit Recht verboten.“ (Aber gilt das auch für die Literatur, die die Lebensplagiatkunst schlechthin ist, eine Kunst boshafter und scharfsichtiger Indiskretins?) Ob Goethe, Thomas Mann, Proust, Robert Musil, Theodor Fontane, Martin Walser, Günter Grass, Scott Fitzgerald, Philipp Roth, Gustave Flaubert, Arthur Schnitzler – sie alle haben ihre privaten Erfahrungen ins öffentliche Licht der Kunst gezogen – und haben sich auf das Recht der Verallgemeinerung zur Allgemeingültigkeit berufen, die für ihre Kunst unabdingbar sei.

Die Schauspielerin Adele Sandrock sah sich in ihren privaten Liebesgeflüster zu ihrem eifersüchtigen Galan Arthur Schnitzler ins Scheinwerferlicht gezerrt, schwieg aber, um Schlimmeres zu verhüten. Dass Thomas Mann seinen berühmten Kollegen Gerhart Hauptmann im „Zauberberg“ als vierschrötig kraftmeiernden Zeitgenossen (Peeperkorn) vorführte, hat den Dramatiker verärgert, ihm aber auch geschmeichelt. Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ ist ein Kompendium der ausgeplauderten Indiskretionen, inklusive Ehebruch – alle künstlerisch verarbeitet, verjährt, vergeben und vergessen. Auch das Porträt des „Großschriftstellers“ Arnheim, der ein Abbild des deutschen Großindustriellen und (später ermordeten) Außenministers Walther Rathenau voller Hohn und Bosheit ist.

Auch Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit“ ist sozusagen die Mutter aller Schlüsselromane, wobei die Tatsachen damals pikant waren: dass Proust in „Swanns Liebe“ etwa die amour fou eines Herrn der Gesellschaft zu einer Prostituierten, wenn nicht zu einem Stricher schilderte und in dem Coming-out-Band „Sodom und Gomorrha“, erst nach dem Tod der Mutter erschienen, in der Roman-Figur Charlus dessen zupackend praktizierte Homosexualität mit großer Schonungslosigkeit darstellt und den Zeitgenossen Comte Robert de Montesquiou nur zu leicht erkennbar macht.

Was hat das mit den Fällen der Gegenwart zu tun? Es geht hier vor allem um Maxim Billers Roman „Esra“, der durch Gerichtsbeschluss auch nach Schwärzungen bestimmter Stellen und Kürzungen nicht verkauft werden darf. Und um Alban Nikolai Herbsts Roman „Meere“, der inzwischen auch vom Verkauf ausgeschlossen ist.

Die Klägerinnen – im Falle Billers seine ehemalige Lebensgefährtin und deren Mutter, im Falle Herbsts die Freundin und Mutter eines gemeinsamen Kindes – haben Gerichte gegen die Bücher bemüht, weil sie sich in ihrer Privatsphäre verletzt fühlen. Sie wollten nicht, dass intime Details aus ihrer Lebens- und Liebeserfahrung mit dem jeweiligen Autor und verflossenen Lebenspartner an die Öffentlichkeit dringen, in der sie dann ungeschützt, gleichsam nackt und in ihren intimsten Erfahrungen verraten, dastünden.

Es ist ein Paradox, dass natürlich die beiden Klagen erst die Öffentlichkeit und ihre Entblößung zu schaffen drohen – sie zumindest vergrößern–, die die Klägerinnen verhindern wollen.

„Esra“-Verleger Helge Malchow hat genau das angeführt, und der Anwalt der „Esra“- Klägerinnen hat erwidert: „Das ist ein besonders boshaftes Argument. Es bedeutet, dass Leute, die so angegriffen worden sind, rechtlos gestellt werden.“

Beide Romane handeln von einer Liebesbeziehung des Autors, die in die Brüche gegangen ist. Beide schildern die Zeit der Gemeinsamkeit mit vielen Details über Liebespraktiken, Angewohnheiten, sexuellen Grenzüberschreitungen. Es fließt (bei Herbst ungehemmter) viel Speichel, Schweiß und Sperma, es geht um das Eindringen in viele körperliche und psychische Öffnungen, es geht um Offenbarungen einer schonungslos gezeigten Körperlichkeit. Kurz: Es geht um Literatur, die porennah und mit weit geöffneten Augen und Sinnen nicht nur auf sich selbst blickt – beide Autoren schonen sich nicht –, sondern den anderen, der sich einst intim preisgegeben hat, mit einem scharfen Sexreport entblößt. Konnten sich die Geliebten einst darauf verlassen, dass sie in ihrer Hingabe und Nacktheit, in ihren Hinwendungen und Verweigerungen vor jedem Draußen abgeschirmt waren, so ist es jetzt , da alles vorbei ist und zwischen zwei Buchdeckel gepresst wurde, auch vorbei mit dieser Rücksicht: Die früheren Geliebten müssen sich wie am Pranger vorkommen.

Das wäre nicht schlimm, der Literatur sogar zuträglich (denn beide Autoren können beobachten, künstlerisch beobachten) würden die betroffenen Frauen sich allein wiedererkennen und anderen fremd, anonym bleiben. Das ist aber leider nicht so – und insofern trifft hier Freiheit der Kunst auf das Recht auf Schutz der Privatsphäre – zwei Güter, zwischen denen es keine wirkliche Abwägung gibt. Nur die: dass das Private, solange es das Leben der Geschilderten noch betrifft, berührt, ja zu beschädigen droht, Vorrang haben muss.

Es muss keine Frau damit rechnen, dass nun jeder, der sie erkennt, erfährt, wie gierig sie Speichel und Sperma trinkt, wie sie riecht und wie weit sie in ihrer Ekstase geht. Sowohl Biller als auch Herbst verletzen die Intimsphäre. Und das Problem ist: Sie tun es, weil es das künstlerische, moralische Movens ihres Schreibens ist. Die radikale, personelle Enthüllung ist das Programm dieser Romane, die Eigen- und Fremdverletzung Motivation und Rechtfertigung. Tratsch und Klatsch (siehe Bohlen) ist das fürwahr nicht – ob nun mehr oder weniger geglückt.

Aber die Autoren haben sich und ihre Opfer (als deren Opfer sie sich schildern) entschlüsselt. Herbst widmet sein Buch dem realen Vorbild, das er in der Widmung beim wahren Namen nennt. Es ist ein Spiel der Verschlüsselung zum Zweck der Entschlüsselung, und die Vorstellung, seine Geliebte, die ihn verlassen hat, bloßzustellen, ist der zwanghafte, künstlerisch auch schlüssige Antrieb.

Bei Biller liegt der Fall ähnlich. Auch er begnügt sich nicht, das Scheitern einer Liebe schonungslos zu schildern, nein, er streut Erkennungsmerkmale wie für eine detektivische Schnitzeljagd durch seinen Roman. Die Heldin? Türkin, Schauspielerin, Bundesfilmpreisträgerin! Ihre Mutter? Trägerin des alternativen Nobelpreises. Alles spielt in München, in den Wohnungen, in denen Biller damals wohnte und verkehrte, jedes Café, jeder Arztbesuch (zur Schwangerschaftsdiagnose) sind für Eingeweihte wieder zu erkennen.

Aber auch „Eingeweihte“, Bekannte, haben kein Recht auf intime Details - weder auf das Stöhnen beim Beischlaf noch umstrittener Praktiken beim Hauskauf in der Türkei. Man soll da nichts von Freiheit der Literatur einwenden (obwohl Biller und Herbst nicht nur theoretisch jedes Recht dazu haben). Man soll wissen, dass sich Menschen zur Wehr setzen dürfen, wenn man ihre frühere freiwillige Schutzlosigkeit einem exhibitionistischen Zwang unterwirft. Da gibt es das juristisch garantierte Recht zur Gegenwehr.

Hellmuth Karasek

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