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Kultur: Aus der Hölle

Zum Tod des amerikanischen Skandalautors Hubert Selby

„Der große Amerikanische Traum ist heimtückisch, tödlich, mörderisch ... Dieser Traum ist eine Lüge, und er wird uns umbringen. Deswegen träume ich vom Ende des American dream.“ So gab der damals 73-jährige Hubert Selby im Sommer 2002 in der „Zeit“ einen ätzenden Anti-Traum zu Protokoll. Für seinen Präsidenten, der sich gerade nach neuen Schauplätzen seiner Kriegskunst umschaute, hatte er darin nur zwei lapidare Zeilen: „Bush ist ein gefährlicher Mann. Für den Planeten und alles, was auf ihm lebt.“

1964 erschien sein erster Roman „Last Exit to Brooklyn“, hoch gelobt von Samuel Beckett. Und der Beat-Poet Allen Ginsberg prophezeite damals, der Roman werde wie eine rostige Höllenmaschine über Amerika explodieren und gleichwohl in hundert Jahren noch eifrig gelesen werden. „Last Exit to Brooklyn“ zeichnet ein gnadenloses Bild vom ganz realen amerikanischen Alptraum: vom Elend der Großstadtslums, der Gewalt auf den Straßen, von Kriminalität und Drogen. Die Roman-Bombe explodierte weithin vernehmbar, wurde zu einer Bibel des „anderen“ Amerika und landete in England und Italien wegen Obszönität (vorerst) auf dem Index.

Geboren 1928 in Brooklyn, wuchs Hubert Selby in ärmlichsten Verhältnissen auf, verließ die Schule mit 15 und heuerte als Matrose an. Nach dem Militärdienst bei der Handelsmarine erkrankte er an Tuberkulose und verbrachte vier Jahre in Krankenhäusern. Die Ärzte hatten ihn schon aufgegeben, einer entließ ihn mit den Worten: „Gehen Sie nach Hause und nehmen Sie’s nicht tragisch, setzen Sie sich hin und warten Sie das Ende ab.“

Selby weigerte sich zu sterben. Im Krankenhaus hatte er viel gelesen und beschlossen, Schriftsteller zu werden. Er kaufte eine Schreibmaschine und arbeitete zehn Jahre – unterbrochen durch Alkohol- und Drogenexzesse – an „Last Exit to Brooklyn“.

Nach dem plötzlichen Erfolg brauchte er immerhin vier Jahre, um die beträchtlichen Tantiemen mit Heroin, Kokain und Alkohol durchzubringen. Nach einer Entziehungskur schrieb er seinen zweiten Roman „The Room“ (1971, dt. „Die Mauer“), ein Stream-of-Consciousness Monolog eines Knastbruders. Obwohl dieses und die folgenden Bücher von der Kritik anerkannt wurden, hatte Selby keinen wirtschaftlichen Erfolg mehr, lebte von einfachen Jobs und von der Sozialfürsorge. Ein wenig Auftrieb – auch finanziell – bedeutete die Verfilmung von „Last Exit to Brooklyn“ durch Bernd Eichinger und Uli Edel, für die er das Drehbuch schrieb, und worin er auch in einer kleinen Rolle zu sehen ist.

In seinen späten Büchern, etwa im Erzählband „Song of the Silent Snow“ (1986, dt. „Lied vom stillen Schnee“) ist im Vergleich zu seinen düster–negativistischen Roman-Tiraden eine gewisse Milde zu spüren. Für den alten Hubert Selby existierte ein Traum nach all den ausgeträumten Träumen: „Es gibt eine spirituelle Seite unserer Existenz jenseits der materiellen Welt, und sie ist realer als jede bewusste Erfahrung, sie kann eine Einsicht sein, eine Offenbarung. Das ist es, worum es im Leben geht, und das ist etwas ganz anderes, etwas viel besseres als der American dream.“ Hubert Selby erlag in seinem Haus in Los Angeles einer Lungenerkrankung.

Marius Meller

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