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Kultur: "Aus Protest": Mit van der Lubbes Augen

Noch heute streiten die Historiker über die wahren Hintergründe des Reichstagsbrandes am 27. Februar 1933.

Von Sandra Luzina

Noch heute streiten die Historiker über die wahren Hintergründe des Reichstagsbrandes am 27. Februar 1933. Im brennenden Parlamentsgebäude wurde der Niederländer Marinus van der Lubbe aufgegriffen, der sich auch zur Tat bekannte. "Aus Protest", erwiderte er auf die Frage, warum er den Reichstag angezündet hätte. Der Regisseur und Komponist Ronald Steckel hat den politisch vereinnahmten van der Lubbe zu einer Theaterfigur gemacht. Er lässt ihn selbst zu Wort kommen. Steckel hat die Reisetagebücher und die wenigen Briefe und Gedichte gesichtet und daraus einen Monolog geschrieben. Nicht so sehr das Rätsel des politischen Kriminalfalls interessiert Steckel. Er zeichnet ein bewegtes Porträt des Mannes, über den die Meinungen auseinandergehen: War er ein verwirrter Einzeltäter, Teil einer kommunistischen Verschwörung oder willfähriger Strohmann der an die Macht drängenden Nazis?

Der Werkraum der Kammerspiele, die vom Zuschauerraum abgetrennte Bühne, erinnert an einen Maschinenraum. Die mit kargen Mitteln arbeitende Inszenierung konzentriert sich ganz auf den Darsteller. Hans-Jochen Wagner leiht Marinus van der Lubbe eine kräftige proletarische Gestalt. Mit halbgeschlossenen Augen spielt er den Maurergesellen, der mit 19 Jahren fast vollständig erblindete, weil ihm ungelöschter Kalk ins Auge geriet. "Ungelöschter Kalk" hieß auch die Produktion der Gruppe Hollandia, die ein Vorbild darstellte. Nur noch an den Rändern sehe er scharf, in der Mitte dagegen verschwommen, erklärt Hans-Jochen Wagner ans Publikum gewandt. Van der Lubbes eigentümliche Wahrnehmung bringt er durch seine klare Sprachgestaltung nahe. War er nun ein blindes Werkzeug? Oder nicht doch ein hellsichtiger Visionär? Steckel zeigt den politischen Aktivisten und den idealistischen Schwärmer, der über das Gute im Menschen nachdenkt, ein Gedicht über die Schönheit schreibt und gleichzeitig die Ungerechtigkeit der sozialen Verhältnisse anklagt. Der bald nicht mehr an einen kommunistischen Umsturz glaubt, sondern eine geistige Erhebung fordert. Und der sich nüchtern über den Wert der Arbeit ausspricht. Reiche Empfindungsgabe, gepaart mit revolutionären Überzeugungen: alles in ihm drängt nach Veränderung, zur Tat.

Der zweite Teil zeigt den inhaftierten Lübbe, der mit Festigkeit sein Geständnis vorträgt. Der mit fortschreitender Dauer des Prozesses aber zum gebrochenen Mann wird. Der junge Maurer wurde eines der ersten Todesopfer der nationalsozialistischen Willkürjustiz. Steckel zeigt ihn gefangen in einem Lichtschacht, der sich zur Hakenkreuz-Symbolik erweitert. Immer kraftloser sinkt der Darsteller auf seinem Stuhl in sich zusammen. Die Stimmcollage zitiert nur spärliche Auszüge aus den Gerichtsprotokollen. Umso ausführlicher wird das Protokoll der Hinrichtung am Schafott verlesen. Am Ende wirft die Figur - wie zu Beginn - einen langen Schatten auf die Bühne. Endgültig Licht ins historische Dunkel zu bringen, reklamiert die Inszenierung nicht für sich. Beeindruckend ist der Versuch, diese vielfach vereinnahmte Figur mit den Mitteln des Theaters zu ihrer eigenen Wahrheit kommen zu lassen.

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