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AUSGEHEN: Immer der Schnauze nach

Nächtliche Wanderungen von einem Biotop zum nächsten bestätigen stets die Faustregel: Eine Besiedlung neuer Habitate geht nie ohne Getränk in der Hand vonstatten. Wirte, die Bierkästen in brüchige Hallen schleppen und Weinflaschen über windschiefe Zäume werfen, sind die Pionierpflanzen der Großstadt.

Nächtliche Wanderungen von einem Biotop zum nächsten bestätigen stets die Faustregel: Eine Besiedlung neuer Habitate geht nie ohne Getränk in der Hand vonstatten. Wirte, die Bierkästen in brüchige Hallen schleppen und Weinflaschen über windschiefe Zäume werfen, sind die Pionierpflanzen der Großstadt. Oft müssen sie wieder zarte Wurzeln schlagen, wo es Generationen zuvor noch üppigst spross. Die Bötzow Brauerei galt einst als die produktivste Norddeutschlands, der eigene Schankgarten mit 6000 Plätzen war der größte im ganzen Lande. Ferne Zeiten, in denen Arbeit noch Schweiß bedeutete und Bier in den Adern der pausenlos wachsenden Stadt pulsierte: aufschäumend und herb, nährend, doch nie den Hunger stillend, erst locker und dann maßlos müde machend.

Das gewaltige Bötzow-Areal soll nun neu erstehen. Erste Blüten öffnen sich in einem Backsteinlabyrinth, das ein reiferer Wachmann hütet. „Ham se schon die Bar jesehen?“, bollert er lächelnd. „Hintam Krokodil links“, sagt er noch. Immer der aufgerissenen Schnauze nach und man landet im ehemaligen Maschinenraum der Brauerei, in den jüngst Le Croco bleu eingezogen ist. Ein Panoptikum von einem Interieur – wie von einem Naturforscher der großen Expeditionszeit zurückgelassen, neu belebt von streng gescheitelten Essenzenentwicklern, die sich in einer Art Jahrmarktsbude eingerichtet haben. Ab an zu öffnet sich ein Hintertürchen zu einem grünlich schimmernden Flaschenkabinett.

Die Aufsicht über Laboratorium und Salon führt Gregor Scholl, der mit seinem winzigen Rum Trader am Fasanenplatz zum Royalisten der Berliner Barkeeper avancierte. Auf Bötzow ist der distinguierte Herr mit der goldenen Uhrenkette merklich umgänglicher. Hier sind ja auch noch viele Plätze frei. An Scholls adelig-untadeligen Kreationen liegt es nicht, auch wenn das Portemonnaie partout nicht immer einen Prince of Wales hergeben will. Der Spleen wird im „Le Croco bleu“ unweigerlich zur wahren Existenzform. Und allzu schnell glaubt man alles: Plötzlich meint man die zwei Krokodile planschen zu hören, die einst vor dem Bombenhagel in die unterirdischen Gärbecken abgetaucht sein sollen. Werden ja sehr alt, diese Urviecher. Nach dem Krieg wurde volkseigener Schnaps im Untergrund gelagert, dessen Verfügbarkeit die DDR länger haltbar machte. Bis dieses Biotop trocken fiel.

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