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Byzantinischer Christus. Fresko aus der Hagia Sophia in Iznik (13. Jahrhundert).

© akg / G. Degeorge

Der gestrandete Wal: Auslaufmodell Gott?

Was an den biblischen Erzählungen historisch ist und was Fiktion, wird bis in alle Ewigkeit Gegenstand von Diskussionen sein. Eine weihnachtliche Begegnung mit dem Literatur- und Religionskritiker James Wood.

Von Gregor Dotzauer

Welche Frivolität, sich vorzustellen, wie der Pfarrer kurz vor der Christmette, verstohlen um sich schauend, in die leere Kirche schleicht und einen geschnitzten Jesus handwarm in die Krippe gleiten lässt. Die Figuren sind gesetzt, die Inszenierung kann beginnen, das Spiel nimmt seinen Lauf. Doch was Weihnachten ein Stück entmystifiziert, wie James Wood meint, fällt gegenüber dem Unglaublichen der religiösen Botschaft kaum ins Gewicht. Ist das theologisch offen Behauptete nicht verrückter als die heimliche Geste? Jedes Kind versteht, dass noch keine Krippenfigur vom Himmel gefallen ist. Es soll vielmehr begreifen, dass Gottes Sohn vom Heiligen Geist empfangen und von einer Jungfrau geboren wurde.

Dem Weihnachtsmärchen mit den Mitteln der Desillusionierung zu Leibe zu rücken ist so müßig wie nachzuweisen, dass in Passionsspielen nur Theaterblut fließt. Was an den biblischen Zentralerzählungen historisch ist und was Fiktion, was gleichnishaft ist und in welche Glaubenswahrheiten es sich übersetzen lässt, wird bis in alle Ewigkeit Gegenstand von Diskussionen sein. Denn die Grundspannung von Wörtlichkeit und metaphorischer Rede lässt sich nicht beseitigen – schon gar nicht im Gottesbegriff selbst.

Mit kaum jemandem kann man darüber leidenschaftlicher diskutieren als mit dem Briten James Wood, Amerikas namhaftestem Literaturkritiker. Zusammen mit seiner Frau, der Schriftstellerin Claire Messud, ist er Gast der American Academy am Wannsee. Rebellisch geworden durch sein evangelikales Elternhaus und durch die Lektüre von Bertrand Russell früh vom Pfad der anglikanischen Tugend abgebracht, versteht sich Wood einerseits als entschiedener Atheist, der die Schrecken des monotheistischem Gottes und seiner Institutionen auf Erden hinter sich lassen will. Andererseits versucht er etwas von dem politischen und spirituellen Erbe zu retten, das im Eifer eines sich naturwissenschaftlich autorisiert wähnenden Aufklärungsgefechts unterzugehen droht.

James Wood kämpft seit Jahren an zwei Fronten. Der Gott der neuen Atheisten, wie ihn Christopher Hitchens oder Sam Harris beschwören, und der Gott der Kreationisten und anderer Fundamentalisten tragen für ihn mehr oder weniger die gleichen Züge, nämlich die eines fatalen Vertrauens in die biblische Buchstäblichkeit. Er kann nur den Kopf darüber schütteln, dass in Oxford, wo der Hohepriester dieser gnadenlosen Profanierung und Gottesaustreibung, der Evolutionsbiologe Richard Dawkins, zu Hause ist, die gleichen ideologischen Kämpfe ausgefochten werden wie nach dem Erscheinen von Charles Darwins „Entstehung der Arten“ 1859.

Wood ist nicht der Theoretiker eines dritten Wegs. Er hat viel zu hartnäckig die Sackgassen von Glauben und Nichtglauben erkundet, als dass er versöhnliche Synthesen anzubieten hätte. Aber er sucht immer wieder nach dem Punkt, an dem die gedanklichen Linien konvergieren. In der Literatur hat er das Medium gefunden, in dem die Konflikte schmerzhafter und dramatischer sichtbar werden als in der Philosophie.

Die Philosophie freilich hat ihn gelehrt, schlichte ontologische Fragen nach der Existenz Gottes für naiv zu halten. Wozu hat er sich in die hermeneutischen Klippen von Paul Ricœurs Metaphorologie begeben, wozu hat er sich mit der Geburt Gottes aus der Ethik auseinander gesetzt, wie sie Emmanuel Levinas vertritt. Am eigenen Leibe gespürt hat Wood die Problematik erst im Roman. Der wahre Schrecken von Herman Melvilles „Moby Dick“ läuft für ihn auf die Frage hinaus: „Was, wenn Gott nur eine Metapher ist?“

Der Wannsee, der gleich hinter dem tief verschneiten Park hinter der American Academy liegt, ist an diesem Dezembermorgen nicht geneigt, sich unter seinem Eis zu rühren und einen weißen Wal oder auch nur ein gewöhnlicheres Zeichen eines Weihnachtswunders auszuspucken. James Wood kommt, so oft er durch die Theoriegebirge geritten ist, immer wieder in die Tiefebenen zurück: „Existiert Gott oder existiert er nicht? Jeder Mensch muss diese Entscheidung treffen, und ich habe mich als Teenager dafür entschieden, dass ich keine Anhaltspunkte für Gottes Wirken sehe – was nicht heißt, dass sich damit alle theologischen Fragen auflösen.“

Er will auch nichts von der theologisch so populären Schwäche Gottes wissen. Der Gedanke, „dass Gott dabei selbst leidet, dass er mit Jesus am Kreuz litt, dass er in Auschwitz litt, dass er mit uns leidet“, erinnert ihn an Rudolf Bultmann. Und in Slavoj Zizeks Buch „Die gnadenlose Liebe“ hat er gelesen, „dass Jesus, als er im Garten Gethsemane mit den Worten ,Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber‘ betete, keine andere Erfahrung machte als Hiob: Er bekam keine Antwort. Warum sollte jemand einen Gott verehren, der so schwach ist?“

James Wood, 1965 in Durham, im Nordosten Englands, als Sohn eines Zoologieprofessors geboren, der sich noch in fortgeschrittenem Alter zum Priester der Church of England weihen ließ, um an den Wochenenden zu zelebrieren, verbindet unter einem weiten Lesehorizont die Gründlichkeit eines literaturwissenschaftlichen Zugriffs mit journalistischer Eleganz und einem maliziösen Temperament, mit dem er vor allem in jungen Jahren reihenweise Schriftsteller meuchelte. Schon mit 26 Jahren wurde er Chefkritiker des „Guardian“, ließ sich dann von der linksliberalen „New Republic“ in Washington, D. C., anwerben und gehört seit 2007 zu den fest angestellten Autoren des „New Yorker“. Nebenbei lehrt er, obwohl er nur über die elementaren akademischen Weihen verfügt, als Professor für angewandte Literaturkritik in Harvard.

Als Typus konnte ihn so nur die angelsächsische Welt hervorbringen: scharfsinnig, gründlich im close reading, witzig und im Zweifel immer bereit, nicht das dicke intellektuelle Brett zu bohren, sondern mit einer Pointe Erkenntnis zu stiften. Seine ästhetische Position ist leichter negativ als positiv zu beschreiben. Wood verabscheut aus der Theorie gewachsene postmoderne Prosadickichte, er lehnt die Indienstnahme von Literatur im Namen politischer Ideen ab. Zu seinen Lieblingsfeinden gehören Don DeLillo und Toni Morrison, was wiederum ihn und seine Urteile zum Gegenstand einschlägiger Hassblogs gemacht hat. Ein Glanzstück seiner kritischen Kunst ist der Großessay „How Fiction Works“, der unter dem Titel „Die Kunst des Erzählens“ im März bei Rowohlt auch auf Deutsch erscheinen wird.

James Wood ist zurzeit Gast der American Academy

© A. Hornischer/AA

Der Feind sind Fanatismus und Biologismus

Religion ist für Wood ein Lebensthema. In „The Broken Estate“ hat er seine Aufsätze über Literatur und Glauben gesammelt – und mit „The Book Against God“ einen herrlich komischen, autobiografisch grundierten Roman geschrieben. Sein jüngstes Projekt führt dieses Interesse mit Essays über den Roman seit 1850 und dessen Verhältnis zum Verschwinden und dem Tod Gottes fort. In der Academy hat er gerade erst das Kapitel über „Niels Lyhne“, einen Roman des dänischen Schriftstellers Jens Peter Jacobsen (1837–1885) vorgetragen. Ein stockfinsteres, von Thomas Mann und Rainer Maria Rilke hochgeschätztes Seelendrama, das seinem Titelhelden Prüfungen auferlegt, gegen die Hiobs Schicksal wie leichte Kost wirkt. Wood fasziniert, dass es womöglich „eine Form von Zweifel und Unglauben gibt, die einer Art von Glauben näher ist“, als es der erklärte Gotteshasser Lyhne zugeben würde.

Romane wie der von Jacobsen stellen die Unterscheidung von Atheismus und Theismus grundsätzlich infrage. Was Wood nicht verleitet hat, umgekehrt etwa Romane des renouveau catholique einzubeziehen, die wie George Bernanos’ „Tagebuch eines Landpfarrers“ ihr Ringen mit Gott im Schoß der Kirche austragen. Auch sieht er, wie begrenzt sein monotheistischer Fokus ist, zumal er „Die Vielfalt der religiösen Erfahrung“, die William James einst in seinem epochalen Werk untersuchte, sehr wohl gegen die Literalisten in Anspruch nimmt: Spirituelle Abenteuer wie Hermann Hesses „Siddartha“ liegen für ihn ebenso abseits des Weges wie Peter Handkes pantheistische Versuche. Auch dass Wood Poesie als Ort von Transzendenzproduktion selbst unbeachtet lässt, in den romantischen Entwürfen von Novalis und Hölderlin oder bei William Blake und Wallace Stevens, ist ihm bewusst.

Man wird sich mit Wood aber schnell einig, dass der neue Atheismus nur die spektakulärste Form eines Szientismus ist, der auch die Idee des freien Willens unter Hinweis auf die Konditioniertheit allen Handelns kassiert und Bewusstsein auf neuronale Prozesse reduziert. „Wenn ich ein kühnerer Intellektueller wäre“, sagt Wood, „könnte ich den zeitgenössischen Feind, den es zu erlegen gilt, noch viel genauer ausmachen. Der eine besteht in religiöser Buchstäblichkeit und Fanatismus, aus dem sich auch der islamische Terrorismus speist. Der andere ist ein hybrides Monster, das sich aus Utilitarismus und einem neurowissenschaftlich geprägten Biologismus zusammensetzt. Man fragt: Worin besteht der ökonomische Nutzen der Ehe? Und: Wie sind wir im Lauf der Evolution überhaupt dazu gekommen zu heiraten? Gibt es einen Grund, warum wir zu Gott beten, selbst wenn es nichts nützt? Gibt es ein religiöses Gen? Solche simplen Fragen halte ich für jede Form komplexeren Denkens für gefährlich.“

Gegen solche Vereinfachungen gilt es, an kulturellen Traditionen festzuhalten, die gerade in ihrer fortwährenden Selbstbefragung Wirkung entfalten. Wood fühlt sich Habermas’ Rede von der „postsäkularen Gesellschaft“ verbunden. „Wenn einige Atheisten behaupten, dass Religion alles vergiftet und wir sie schleunigst loswerden sollten, ignorieren sie das Erbe, das sich im Christentum als Egalitarismus, Gastfreundschaft und Wohltätigkeit findet. Diesen revolutionären Geist gibt es, wenngleich verdeckt, auch im Islam: die Idee der erweiterten Familie, die auch den Fremden einbezieht, die Idee einer radikalen Gemeinschaft.“

Wood befindet sich allerdings in Widerspruch zu Habermas, wenn es darum geht, mithilfe von Religion die dunkelsten gesellschaftlichen Triebstrukturen zu zähmen. Von der alten Dostojewki’schen Furcht, derzufolge ohne Gott alles erlaubt ist, will er nichts wissen. „Für die Vorstellung, dass die Menschen einander umbringen, sobald man den Deckel der Religion abnimmt und Gott verschwinden lässt, habe ich wenig übrig. Ich will den Erfolg von Religion nicht an ihrer Nützlichkeit messen. Denn was haben wir in den vergangenen 2000 Jahren getan? Wir haben andere abgeschlachtet, wir haben uns in Kriege gestürzt, alles Schlimme ist bereits geschehen.“

Was entfaltet in seinen Augen dann zivilisierende Kräfte? Wood denkt kurz nach, schlägt Rationalität als Möglichkeit vor und wagt dann doch die tragische Vermutung: „Womöglich hält Menschen nichts davon ab, einander umzubringen.“

Ob er damit nun recht hat oder nicht, es bleibt die Aufgabe von Fiktion, auch davon zu erzählen: mit den Begriffen von Schuld und Sühne, ohne die kein noch so säkulares Erzählen auskommt, und in der Gewissheit, dass heilige Texte je nach Leser jederzeit in den Status reiner Literatur zurücksinken können. Wood kennt Gianni Vattimos Philosophie des pensiere debole, eines um seine metaphyische Absolutheit gebrachten schwachen Denkens, und findet es doch wenig aufregend. „Was Vattimo denkt, strahlt zwar in neuem, postmodernem Licht, aber schon Ende des 18. Jahrhunderts bewegen sich in Deutschland Lessing und Schleiermacher auf einen Punkt hin, an dem die Evangelien ihre Kraft als Offenbarung des Heiligen und ihren Status als wahre Texte verlieren. Es sind einfach Geschichten über Jesus. Oder denken Sie an Tolstoi. In seiner ,Kurzen Darlegung des Evangelium‘ interessiert es ihn überhaupt nicht, ob Jesus tatsächlich Gottes Sohn war. Er ist für ihn einfach der perfekte Mensch. Im formalen Sinn ist das reichlich unreligiös. Deshalb wollte ihn die russische Kirche auch exkommunizieren.“

Woods besonderes Augenmerk gehört momentan dem in Chicago lehrenden katholischen Theologen Jean-Luc Marion, einem Schüler von Jacques Derrida. Marion skizziert in seinem Buch „Dieu sans l’être“ (Gott ohne Sein) die jüngste und zurzeit einflussreichste Variante eines von allen ontologischen Aussagen gereinigten Gottesbegriffs.

Zum Verständnis des nordischen Dramas „Niels Lyhne“ bemüht Wood einen Aufsatz, in dem Marion Erkennbarkeit und Unerkennbarkeit Gottes, das abwechselnde Ihm-Zusprechen und Ihm-Absprechen von Eigenschaften, in ein endloses dialogisches Pingpong zu überführen sucht, das die Aporien von positiver und negativer Theologie hinter sich lässt. Diese dritte Position ist für Marion ein sich in actu fortlaufend neu erschaffender Diskurs des Preisens, der in die Nähe einer mystischen, ja einer erotischen Erfahrung kommt. Ein Diskurs, den in gewisser Weise auch die Kunst betreibt.

Wood wäre indes nicht Wood, wenn er diesem Frieden nicht misstrauen würde. Steckt in dieser neuen Affirmation, so fragt er, nicht immer noch der bittere Stachel der Negation? Und wenn er es tut, müsste man Marions Anbetungsdiskurs dann nicht eher in einen Verabscheuungsdiskurs umwandeln? „Der Versuch, ein Wesen zu negieren, das es höchstwahrscheinlich nicht gibt, ist die Negation einer Negation – um genau zu sein Levinas’ ‚Unendlichkeit Seiner Abwesenheit‘.“ Willkommen in der paradoxen Welt der fröhlichen Atheisten.

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