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Nicht alle sind freiwillig unterwegs. Die Radierung und Kaltnadel „Emigranten“ stammt von James Tissot, 1880.

© SMB/ Kupferstichkabinett /Dietmar Katz

Ausstellung im Berliner Kupferstichkabinett: Endlich Freiheit!

Das Weite suchen: Eine Ausstellung im Kupferstichkabinett heftet sich an die Fersen von Reisenden.

Caspar David Friedrich hat den Rucksack geschultert. Sein Reisegepäck ist leicht. Gerade wendet er sich zum Gehen, sein Gefährte Georg Friedrich Kersting erwischt den Freund nur noch von hinten. Wohin die Tour geht, zeigt Friedrichs Zeichnung nicht. Nur in der oberen Ecke dokumentieren ein paar beim Aquarellieren abgestreifte grüne Tupfer, welche Farbeindrücke die beiden Künstler unterwegs gewannen. Ihr Sehnsuchtsort: das Riesengebirge und seine menschenleeren Pfade.

Auch Karl Friedrich Schinkel zog es auf die höchsten Gipfel. Mit dramatisch wehendem Mantel zeichnete er sich auf dem Ätna, wo er den Sonnenaufgang emphatisch begrüßte: Endlich Freiheit!

Was Künstler seit Dürer in die Ferne trieb, wohin es sie verschlug, welche Transportmittel sie bestiegen und was ihre Aufmerksamkeit unterwegs fesselte, dem geht das Kupferstichkabinett in seiner Ausstellung „Wir suchen das Weite“ nach. Das Ergebnis ist keine straff organisierte Pauschalreise zu bekannten Highlights, sondern eine eigensinnige Expedition durch manchmal unwegsames Gelände und ohne chronologischen Fahrplan. Nicht nur vergnügliches Terrain wird erkundet.

„Man reist ja nicht, um anzukommen“, wusste schon Goethe. Auch ihn packte die Reiselust. Zuvor, etwa im Mittelalter, machte sich nur auf den Weg, wem nichts anderes übrig blieb. Darstellungen von Pilgern dokumentieren das. Frühe Landkarten zeichnen auf, wie sich das Weltwissen auch durch den merkantilen Impuls der Kaufleute vergrößerte, ausdifferenzierte und an Detailschärfe gewann.

Das Kupferstichkabinett präsentiert, was die die Künstler seit Dürer in die Ferne trieb

Gleich daneben hängen, winzig klein und knallbunt, die „Mental Maps“ von Franz Ackermann. Das irrwitzige Rauschen der globalisierten Welt zeichnete er 2005 in halb abstrakten Notaten auf. Dazu nutzte er das traditionelle Arbeitsmaterial eines reisenden Künstlers: das handliche Aquarell. Kongenial profitiert die Ausstellung davon, dass kein anderes Medium so gut in die Taschen der Reisenden passte wie das leicht transportable Papier. Darauf und nicht im großen Leinwandformat notierten die Künstler ihre mobilen Erfahrungen.

Mit einem Zwischenstopp an der Tankstelle des Pop-Art-Künstlers Ed Ruscha wird ein neuer Streckenabschnitt im Themenparcours eröffnet, auf dem es um die Wahl des Verkehrsmittels geht. Ob Sandalen, Pferderücken, Reisekutsche, Automobil oder Flugzeug – unaufhaltsam macht der Fortschritt Tempo. Aber er ist nicht ohne Tücken. Schon stoppt eine Reifenpanne die Busreisegesellschaft im Elbsandsteingebirge, wie Bernhard Kretzschmar um 1930 amüsiert zeigt. Bereits in einer prachtvollen Bibelillustration aus dem 15. Jahrhundert drängen sich die Passagiere im Reisewagen wie Ölsardinen, schlimmer noch ergeht es den Schnellzug-Reisenden auf Honoré Daumiers Kreidelithografie „Impressionen und Kompressionen“ um 1840.

Bei dem Kolossalfuß neben dem Porticus Octaviae in Rom handelt es sich um eine Federzeichnung von Marten van Heemskerck (um 1632–36).
Bei dem Kolossalfuß neben dem Porticus Octaviae in Rom handelt es sich um eine Federzeichnung von Marten van Heemskerck (um 1632–36).

© bpk / Kupferstichkabinett, SMB /

Adolph Menzel gelingt es, etwa zur selben Zeit, den Rausch der Geschwindigkeit allein durch den scharf gezogenen Schwung eines Bahndamms bei Berlin ins Bild zu rücken, ohne dass überhaupt ein Zug zu sehen ist. Menzel selbst kam nur bis Hofgastein und, spät, nach Verona.

Überhaupt: Italien! Alle peilten sie das Sehnsuchtsland der Grande Tour an. James McNeill Whistler schipperte über die Kanäle Venedigs, Piranesi zeichnete das Kolosseum in Rom in allen Details, Max Klinger skizzierte den Ausblick seines römischen Ateliers auf Hinterhöfe und Vorstadt. Nüchterne Gegenwart statt hehrer Antike: Reisen kann auch ein Realitätsschock sein. Bei Albrecht Dürer, der zu Fuß über die Alpen geht, spürt man die Neugier, jeden neuen Flecken in Augenschein zu nehmen und im Bild zu fixieren. Das „Welsch Schloss“ auf einem Felssporn fasst er so präzise wie durch ein Fernglas gesehen, mit spitzer Feder. Den Wiesenplan rundum tuscht der Nürnberger nur flugs lässig in grünen Aquarelllagen hin. Den oberen Teil des Blatts lässt er leer: Keine Zeit, die Tour geht weiter.

John Wesleys Gouache „Black Car“ datiert auf 1989.
John Wesleys Gouache „Black Car“ datiert auf 1989.

© copyright: John Wesley, SMB / Kupferstichkabinett, Jörg P. Anders

Bis in ferne Gegenden schwärmten Naturforscher seit dem 17. Jahrhundert aus, stets begleitet von Künstlern, die das Neuland für die Daheimgebliebenen aufzeichnen und publizieren sollten. Wissenschaftliche Erkenntnis hieß zuerst einmal: Sehen. Acht Jahre durchkreuzte Albert Eckhout im Dienst seines Nassauer Fürsten Brasilien. Seine sensible Kreidestudie einer Tapuya-Indianerin gehörte später im Berliner Stadtschloss zum Grundstock des Kupferstichkabinetts. In der Südsee treffen wir auf Nolde, und auf Gauguin. Der eine registrierte kritisch die Kollateralschäden des Kolonialismus, der andere mystifizierte die Schönheit des Fremden, um sich seinen Traum vom unberührten Paradies nicht entzaubern zu lassen.

Und wohin jetzt? Wenn die Enden der Welt erreicht sind? Unter dem Motto „Irrfahrten des Odysseus“ gerät die Ausstellungsreise zum Schluss ins Schlingern. Mit Siebenmeilenstiefeln wird nun durcheilt und in Stippvisiten gerafft, was irgend mit dem Begriff des Reisens noch erfasst sein könnte: Narrenschiff und Traumreisen, der Überschallflug der Avantgarden durch unbekannte Zonen und schlussendlich die letzte Reise ins Jenseits.

Flucht und Migration sind die aus der Not geborenen Arten des Reisens. Das aktuelle Thema ereilte die Kuratoren mitten in ihrer Planung. So hocken nun, um 1895 von Arthur Kampf festgehalten, die Emigranten mit auf dem Schiff und harren einer ungewissen Zukunft.

Buchstäblich das Weite suchte schließlich auch DDR-Künstler Wolfgang Mattheuer, auf einem Linolschnitt von 1981. Durch eine geöffnete Dachluke schaut er ziehenden Wolken nach. Wer nicht mitreisen kann, dem bleibt immer noch der Flug der Gedanken, ein ungebremstes Vehikel. Die Ausstellung bietet genug Treibstoff dafür: Sie fasst die ganze Welt und noch viel mehr in ein Kabinett.

Bis 25. September. Di–Fr 10–18 Uhr, Do 10–20 Uhr, Sa /So 11–18 Uhr. Katalog (Nicolai Verlag) 19,95 €

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