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Ausstellung: Vierzig Grad unter Null

Nikolaj Chandogins Kriegsfotografien im Museum Karlshorst. Die Ausstellung zeigt Alltagsmomente an einem Ort, an dem es keinen Alltag geben konnte.

Am 30. November 1939 überfallen sowjetische Truppen Finnland. Es folgen erbitterte Kämpfe um die Karelische Landenge. An dieses weitgehend in Vergessenheit geratene Kapitel des Zweiten Weltkriegs erinnert das Deutsch-Russische Museum in Berlin-Karlshorst mit einer Sonderausstellung zu Nikolaj Chandogin. Der Fotokorrespondent porträtierte im Auftrag der Politverwaltung des Militärbezirks die „Helden“ des Winterkriegs und in Eigeninitiative den Kriegsalltag. Bei 40 Grad unter Null versagte immer wieder seine Kamera.

Dabei durfte Chandogin, im Gegensatz zu den Fotografen der Wehrmacht, sein gesamtes Material behalten. So blieb eine weitgehend unverfälschte Bildauswahl des Fotografen erhalten. Gezeigt werden Aufnahmen der Jahre 1939 bis 1945. Danach arbeitete der 1989 verstorbene Fotoreporter für die Zeitung „Heimatwacht“ sowie die populären Zeitschriften „Sowjetunion“ und „Ogonjok“.

Mit dem Einmarsch der deutschen Truppen wird Chandogin der Leningrader Front zugeteilt. Zwar erfüllen einige seiner Bilder aus dieser Zeit eindeutig einen propagandistischen Zweck, doch zeigen sie darüber hinaus das karge Leben der Soldaten im Feld und den Überlebenskampf in einer zerstörten Stadt. Die Bewohner Leningrads leiden unter der zeitweise fast vollständigen Blockade durch deutsche Truppen. Gerade einmal 300 Gramm Brot erhalten Arbeiter 1941, der restlichen Bevölkerung bleiben pro Kopf 150 Gramm im Kampf ums Überleben. Blaustichig, unscharf und körnig sind die Aufnahmen, sie wirken fern und vernebelt.

Chandogin porträtiert unterernährte, von Verletzungen gezeichnete Kinder und eine Stadt im Ausnahmezustand. Wohnhäuser sind in Erwartung heftiger Straßenkämpfe zu Gefechtsstellungen vermauert. Vielerorts werden in den aufgebrochenen Straßen Gemüsegärten angelegt – ein unwirkliches Bild. Als 1942 die Wasserversorgung gänzlich zusammenbricht, fotografiert er Hausfrauen, die in ihrer Not Wasser aus Eislöchern in der Newa schöpfen. Bauern fliehen vor den deutschen Truppen mit Hab und Gut in die Stadt und treiben Kuhherden vorbei am Winterpalais.

Ein Bild zeigt eine Gruppe junger Frauen bei Schießübungen. Wie viele andere hatten sie sich bei Kriegsbeginn freiwillig gemeldet und bilden das Volksaufgebot. Unerfahren und mangelhaft ausgebildet, werden die Einheiten fast vollständig vernichtet. Aus einem großen Fass erhalten junge Soldaten bei Leningrad ihre 100 Gramm „Frontschnaps“.

Überall in der Stadt werden Flakgeschütze positioniert: Unwirklich ragen die stählernen Rohre vor der Isaakskathedrale gen Himmel. Die stolzen Ehrendenkmäler sind zu ihrem Schutz eingehaust, während Soldaten einen Sperrballon als Hindernis für feindliche Bomber ausrichten. Dazwischen Bilder von der Bergung der Opfer eines Artilleriebeschusses, mit Wasser wird das Blut von der Straße gewaschen.

Im Januar 1944 gelingt es sowjetischen Truppen, endgültig die Blockade Leningrads zu durchbrechen, Chandogin begleitet sie auf ihrem Vormarsch und dokumentiert die weitgehend zerstörte Stadt Tallin. Eine Aufnahme ist besonders eindringlich: ein Wald von Schornsteinen, wo zuvor eine Häusergruppe gestanden haben muss. Allgegenwärtig sind die Hinterlassenschaften der Wehrmacht: Sowjetische Truppen sammeln zurückgelassene Munition, daneben thront ein überdimensionales Hakenkreuz auf einem Obelisken.

Nach Kriegsende porträtiert der Fotoreporter Sieger und Besiegte. Deutsche Soldaten in Kriegsgefangenschaft blicken aus hohlen Augen. Doch auch die Gesichter der siegreichen Rotarmisten sind vom Krieg gezeichnet. Hier wird die Stärke Chandogins deutlich, wenn er nicht – wie in der Kriegsfotografie üblich – propagandistisch inszeniert, sondern schonungslos dokumentiert. Die Ausstellung zeigt Alltagsmomente an einem Ort, an dem es keinen Alltag geben konnte. Die letzten Bilder zeigen zermürbte Soldaten, während die Bevölkerung auf dem Schlossplatz in Leningrad die Kapitulation Nazi-Deutschlands feiert. Auch wenn Chandogins Können sicher nicht an einen Jewgeni Chaldej, den legendären russischen Kriegsreporter, heranreicht, eines sind seine Bilder in ihrer Einfachheit ganz sicher: packend.

Jakob Wais

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