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Bildhauerin Bourgeois: Die Spinnenkönigin

95 und kein bisschen leise: Louise Bourgeois wird in London mit einer Retrospektive gefeiert.

Sie hat etwas von einer alten Indianerin: das Gesicht durchzogen von einem Netz von Falten, die Augen mäuschenklein, doch blitzend wach, die Hände altersfleckig gekrümmt, weise Handwerkerhände, die ganze Gestalt ist winzig, doch die Haltung immer noch pfeilgerade. Für ihre Disziplin ist sie ebenso berühmt wie für die notorische Ruppigkeit, mit der sie sich jedem Kontakt zu Werkinterpreten verweigert. Dann hält sie schon einmal ein Schild „No Trespassing“ in die Kamera oder bricht ein Interview ab, in dem sie die lärmende Holzschneidemaschine anstellt. Sie behält ihre Deutungshoheit. Sie bestimmt das Spiel.

Sie ist die Königin, die Spinnenkönigin: 96 Jahre alt wird die Bildhauerin Louise Bourgeois im Dezember, und noch immer arbeitet sie jeden Tag, erzählt ihr Assistent Jerry Gorovoy. In der Londoner Galerie Hauser & Wirth Colnaghi sind nun ihre jüngsten Arbeiten von 2007 zu sehen. Zeichnungen, Gouachen zumeist, die recht offenherzig Sexualität thematisieren, prekäre Alterssexualität, aber auch eine Frau mit vielen Brüsten, eine Schwangere mit Kind im Bauch. Und, im berühmten Red Room, ein hinreißendes Skulpturenensemble, hohe Stelen, gewonnen aus alten Pullovern der Künstlerin, die Bourgeois mit Bronze überzogen und weiß angestrichen hat, der Ärmel ist hoch in die Luft gereckt, die Skulptur schlank, stolz und kerzengerade, ganz wie die Schöpferin.

Wie sehr sich der Kreis schließt, wie konsequent Louise Bourgeois in ihrem Spätwerk zu den Anfängen ihrer Arbeiten, ja ihres Lebens zurückkehrt, wird besonders im Vergleich zu der gerade eröffneten großen Retrospektive deutlich, die die Tate Modern gemeinsam mit dem Centre Pompidou der Künstlerin zum 96. Geburtstag ausrichtet. Da sind, in chronologischer Präsentation, die ersten Skulpturen aus den späten Vierzigerjahren zu sehen, schmale Holzstelen, die in den jüngsten Pulloverskulpturen ein spätes, überraschendes Echo finden.

Das Thema Textil und Stickerei geht zurück in die Kindheit von Bourgeois, ihr Vater war ein Teppichrestaurator, die Mutter besonders geschickt mit der Nadel bei Stickarbeiten, weshalb Louise ihr mit ihren berühmten Spinnen ein spätes, liebevolles Denkmal gesetzt hat. Eine Riesenspinne, „Maman“ von 1999, steht nun auch vor der Tate Modern am Ufer der Themse, zur Freude aller Kinder, und stand schon einmal in der monumentalen Turbinenhalle des ehemaligen Kraftwerks, die Louise Bourgeois zur Eröffnung der inzwischen etablierten „Unilever Serie“ bespielte.

In diesem Jahr ist es die Chilenin Doris Salcedo, der parallel zur Bourgeois-Retrospektive die Gestaltung der Turbinenhalle überlassen wurde. Sie hat sich für ihre Arbeit „Shibboleth“ zu einem Radikaleingriff entschlossen, hat einen tiefen Riss in den Betonboden meißeln lassen, ein Einschnitt, der bis an die Fundamente unseres Kunstverständnisses gehen soll. Künstlerisch interessanter sind jedoch andere Risse, die, wie bei Bourgeois, quer durch ein Œuvre, ein Leben, quer durch eine ganze Persönlichkeit gehen.

Kaum jemand hat kindliche Traumata und weibliches Rollenverständnis, Ängste und geheime Wünsche so obsessiv künstlerisch verarbeitet wie die in Paris geborene, seit 1938 in den USA lebende Künstlerin. Kein Wunder, dass sie, ähnlich wie Frida Kahlo, zu einer Gallionsfigur der feministischen Kunsttheorie geworden ist, mit ihren frühen „Femme Maison“-Bildern, die einen nackten weiblichen Unterleib und den in einem fensterlosen Haus verborgenen Oberkörper zeigen – einprägsame Bilder für die stete Auseinandersetzung mit der Rolle als Hausfrau und Mutter, mit den ebenso als Schutzraum wie als Gefängnis empfundenen häuslichen Räumen.

Louise Bourgeois selbst hat ihr Werk, ihre Themen geradezu obsessiv kommentiert, manische Tagebuchschreiberin, die sie ist – was es für den nachfolgenden Interpreten nicht leicht macht. Sie hat immer wieder von der als Verrat empfundenen Affäre ihres Vaters mit ihrem Kindermädchen gesprochen, von der stillen, sich verbittert zurückziehenden Mutter, von ihrem eigenen Hadern mit der Ehefrauen- und Mutterrolle. Sie hat von Fantasien erzählt, nach denen die Geschwister den Vater zum Abendbrot verspeisen oder der Ehemann die Ehefrau als Eintopf den Freunden vorsetzt. Nur allzu naheliegend deshalb, alle ihre Arbeiten, sei es die monumentale, geisterbahnhafte Rauminstallation „The Destruction of the Father“ von 1974 oder zarte, fragile Arbeiten wie „The Reticent Child“ von 2003 auf diese Themen von Vaterkomplex und Mutterschuld hin zu lesen.

Doch eine Interpretation nur nach tiefenpsychologischen Komplexen hieße, wesentliche Qualitäten der Arbeiten zu übersehen. Bourgeois’ enorme Sensibilität für Materialien zum Beispiel, die glatte Eleganz der frühen Holzstelen, die fast körperliche Sinnlichkeit ihrer Latex- und Gipsskulpturen, der Ausflug in oberflächliche Perfektion, wie sie die exquisiten Marmorskulpturen aus den Achtzigern auszeichnet, das Zusammengenähte und -gestoppelte der späten Textilskulpturen – und die überraschende Neuerfindung ab den Achtzigern, mit der monumentalen Serie der Zellen, der „Cells“.

Louise Bourgeois war Spätzünderin, sie hat ihre ersten Erfolge erst als Mittvierzigerin gefeiert, und in ihren späten Fünfzigern eine ganze Generation von jüngeren Künstlerinnen inspiriert. Kaum jemand hat so konsequent wie sie noch im hohen Alter (1980 war sie immerhin fast 70 Jahre alt) noch einmal neues Terrain beschritten. Und sie hält ihr Niveau, bis in die jüngsten Arbeiten, die nun mit der Hilfe von Assistenten entstehen.

Die Zellen, Raumensembles aus alten Türen, Gittern, Fenstern oder den Wänden eines Wasserfasses, das sie vom Dach ihres Ateliergebäudes in Brooklyn hatte abbauen lassen, funktionieren als vielschichtige Erinnerungsräume, sowohl vom Material als auch vom Thema her. Sie enthalten Fundstücke, Kinderkleider oder abgelegte Roben der Künstlerin, die noch den Körpergeruch zu atmen scheinen, aber auch Modelle ihres Vaterhauses in Choisy-le-Roi in der Nähe von Paris, dazu eine Vielzahl von Spiegeln, von Glasgefäßen voller Körperflüssigkeiten wie Tränen oder Schweiß, oder Urbildern wie einem rot bezogenen Bett als Ort der Zeugung und des Todes.

Die blinden Spiegel und Fenster, das abgeblätterte Holz, die vergilbten Stoffe, die Schriftzüge, bei denen Buchstaben fehlen, atmen Vergänglichkeit, bilden eine fragile Balance zwischen Schönheit und Verfall. Sie wirken wie eine Hülle, eine zweite Haut für ihre zierliche Schöpferin. Man kann sie sich gut als Bewohnerin ihrer eigenen Kunst- und Erinnerungsräume vorstellen, die alte Indianerin Louise Bourgeois.

Tate Modern, bis 20. Januar, danach Centre Pompidou, Paris. Katalog 24,99 Pfund (Paperback)

Christina Tilmann

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