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Fotografie: Es gibt kein Halten mehr

Nichts wird sträflicher ignoriert als die Ampel. Zu Unrecht, wie die Stadtansichten des Fotografen Andreas Göx zeigen.

Es gehört zur habituellen Coolness des jugendlichen Großstadtbewohners, rote Fußgängerampeln mit Verachtung zu strafen. Abwarten gilt ihm als Ausweis von Spießertum oder gar Autoritätshörigkeit, jedenfalls als das Gegenteil von allem, was er sich unter zivilem Ungehorsam oder einfach nur seiner Art zu leben vorstellt. Dieses Desinteresse ist bedauerlich. Wer die großartigen Fotografien von Andreas Göx gesehen hat, bekommt zumindest eine Ahnung, was Ampelignoranten entgeht. Leute, möchte man rufen, seht die Signale! So schwer ist das nun wirklich nicht. Und schaut, was sie über die Bewohner, die Topografie und Geschichte der verschiedenen Berliner Stadtbezirke erzählen.

Am Anfang hatte Göx eher zufällig beobachtet, in welch verblüffender Weise Ampeln das Verhalten von Passanten beeinflussen, wie ein technisches Steuerungssystem in lebendige Bewegungsabläufe eingreift. Dann, in den letzten drei Jahren, hat er an 500 Fußgängerampeln in ganz Berlin etwa 10 000 Fotos gemacht. Zwei Dutzend davon kann man in der von Julie August kuratierten Kabinett-Ausstellung „Lichter der Großstadt – Geschichten von Ampeln und Menschen“ im Museum für Kommunikation bestaunen. Weitere 250 Bilder werden als halbstündige Fotoanimation auf Computern gezeigt. Auf ihnen ist sie am dichtesten, die Konstellation aus Menschen, ihren Handlungen und ihrer Umgebung, die Göx vorschwebte.

In der Tat ist die Ampel, zumal die rote, ein sonderbares Ding, ein Störenfried auf großstädtischem Terrain. Denn das zeichnet sich, seit es Großstädte gibt, durch Geschwindigkeit, Fluss und Durchlässigkeit aus. An der Ampel aber wird die Geschäftigkeit oft abrupt unterbrochen, kommt die Bewegung zum Stillstand. Ampeln könnte man mit dem Soziologen Anthony Giddens als „Haltestellen“ bezeichnen: Orte, an denen die Mobilität der Stadtbewohner zeitweise herabgesetzt wird, an denen sich Routineaktivitäten überschneiden. Und zwar in denkbar demokratischer Manier: Im Warten an der roten Ampel sind alle gleich. Abläufe verlieren Ziel und Richtung, die Konzentration nimmt ab, Zerstreuung setzt ein. Bei Göx sieht man, wie einer sich eine Zigarette anzündet, eine Frau ihre Pommes verschlingt, zwei sich küssen (vielleicht über mehrere Grünphasen hinweg). Meistens hängt der Wartende mit leerem Blick bloß seinen Gedanken nach. Während die Zeitschaltung tickt, fragt man sich, wie tickt der?

Hier nun tritt die Werbeindustrie auf den Plan und platziert ihre großflächigen Plakate just in Ampelnähe. Aber auch andere buhlen um die Aufmerksamkeit der Wartenden. Denn die haben Zeit, in aller Ruhe die eigens für sie hinterlassenen Graffitibotschaften auf der gegenüberliegenden Seite zu studieren oder sich mit Miet- und Sprachkursangeboten zu beschäftigen, die etliche Ampelmasten pflastern. Die Ampel ist zum Multifunktionsapparat geworden, Litfaßsäule inklusive. Ohnehin kommt ein Rotlicht selten allein. Mal wird es von Lautsprechern für Sehbehinderte ergänzt, mal signalisiert gelbes Blinklicht den Autofahrern, dass auch Fußgänger die Stadt bewohnen. Und da Ampeln meist an Kreuzungen stehen, werden sie von etlichen Hinweis- und Verbotsschildern flankiert, sind Bestandteil des städtischen Zeichenwaldes – eines Bedeutungsdschungels, durch den man sich, fast ohne ihn wahrzunehmen, täglich seinen Weg bahnt.

Die Bilder „eingefrorener Bewegungen“, die Göx’ Kamera festhält, erzählen aber noch mehr. Körpersprache und der Dresscode der Passanten – wer wie schwer an welchen Taschen und Tüten trägt – zeigt oft an, bei welcher Verrichtung sie abgelichtet wurden: dem Weg zur Arbeit, zum Einkauf oder zum Tabakladen. Es sind veritable Charakterstudien, in denen sich mal großstädtische Anonymität spiegelt, aber auch Vertrautheit – etwa im Gleichschritt, in dem ein Paar die Straße überquert. Selbst Rückschlüsse auf Stadtbezirke lassen sich ziehen: leicht geduckte Aggressivität in Hellersdorf, spürbare Gelassenheit in Prenzlauer Berg. Vergleichsweise ruhig geht es in Marienfelde zu, schon etwas wilder am Schlesischen Tor.

Die erste Berliner Ampel stand bekanntlich seit 1924 am Potsdamer Platz. In London hatte man schon 1868 eine Gaslichtanlage installiert, die allerdings wegen der Explosionsgefahr nicht als Zukunftsmodell taugte. Zum festen Bestandteil der urbanen Alltagskultur konnten Ampeln erst als elektrisch betriebene Signalanlagen werden. Seitdem haben sie sich wie ein Netz über die Stadt gelegt. Dass diese Stadt einmal dichter bebaut war und mehr Bewohner hatte, lässt sich heute an Brachflächen und verwaisten Ampeln ablesen. Hier, in den urbanen Abraumflächen, sind dem Fotografen, der sich bereits mit leer stehenden Läden beschäftigt hat („Time Out“), die vielleicht poetischsten Bilder gelungen. Jene, die er „Signale im Selbstgespräch“ nennt: gespenstische Szenerien, in denen den Ampeln die Menschen abhandengekommen sind. Göx’ Fotos nähren den Verdacht, dieses filigrane technische System, das menschliches Verhalten steuert, könnte sich von seinen Zwecken emanzipieren und einfach ohne uns existieren.

Für den jugendlichen Ampelignoranten hält der Gesetzgeber recht unpoetisches Vokabular bereit. Er spricht von „Rotlichtverstoß“ und mahnt, dass selbst eine grüne Ampel „nicht von der Sorgfaltspflicht entbindet“. Auf andere Art sorgfältig sind Andreas Göx’ Fotografien. Sie zeigen, dass Ampeln sogar zur ästhetischen Produktivkraft avancieren können.

Museum für Kommunikation, Leipziger Straße 16; bis 2. März, Di–Fr 9–17 Uhr, Sa/So 10–18 Uhr.

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