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© Museum

Museum für Kommunikation: Tagebücher: Unsterblichkeit für alle

Weltgeschichte in Ich-Form: Das Museum für Kommunikation zeigt Tagebücher aus fünf Jahrhunderten. Darunter auch welche aus Holz.

Wer ein Tagebuch schreibt, arbeitet an seiner Unsterblichkeit. Zwischen zwei Buchdeckeln hält er den eigenen Alltag fest, damit künftige Leser einmal sagen können: So war das also damals. Einzige Voraussetzung: Der Autor sollte so prominent sein, dass posthume Leser sich noch für ihn interessieren. „Ein Mensch, der kein Tagebuch hat, ist einem Tagebuch gegenüber in einer falschen Position“, notiert Franz Kafka 1911. „Wenn er zum Beispiel in Goethes Tagebüchern liest: ,11. 1. 1797. Den ganzen Tag zu Hause mit verschiedenen Anordnungen beschäftigt‘, so scheint es ihm, er selbst hätte noch niemals an einem Tag so wenig gemacht.“ Kafka wusste, wovon er sprach. Er führte selbst Tagebuch.

„@bsolut privat!? Vom Tagebuch zum Weblog“, unter diesem Titel rollt das Museum für Kommunikation die Kulturgeschichte eine zwischen Geheimnis und Enthüllung oszillierende literarische Form auf. Wer die Ausstellung besucht, sollte Zeit mitbringen. Es gibt viel zu lesen. Dreihundert Exponate sind ausgestellt, und wer will, kann sich zudem in den assoziierten Texten, Video-Bekenntnissen und Internet-Blogs verlieren. Jedes Tagebuch ruft „Ich!“, hier aber buhlt gleich ein Chor von Stimmen um Aufmerksamkeit: „Ich, ich, ich!“ Das Licht in den Ausstellungsräumen ist feierlich heruntergedimmt, auf dass die von Punktstrahlern illuminierten Preziosen in den Vitrinen – ein Logbuch von James Cook, Arthur Schnitzlers „Traum-Auszüge“, ein Schreibkalender von Goethe aus dem Jahr 1796 – umso heller leuchten. Selbst die grauen Filzmatten, über die sich die Besucher bewegen, sind mit diaristischen Botschaften bedruckt. Sie sind nach Jahrestagen geordnet, so kommt es zu überraschenden Begegnungen. Stefan Zweig schreibt am 10. September 1912: „Heute, an einem ganz beliebigen Tage, beginne ich wieder mein Tagebuch. Der Verlust, jener Diebstahl meines Tagebuchs von Paris und London, jener zwei stürmischsten Jahre meines Lebens ist so das Furchtbarste, das mir begegnet ist.“ Leo Tolstoi am 15. September 1862: „Nur anderthalb Stunden geschlafen, fühle mich aber frisch und furchtbar nervös. Ging zu Serjosha, dort spotteten wir über die Unsterblichkeit der Seele.“ Und Maxie Wander am 16. September 1976: „Die schwarzen Ringe um die Augen sind weg, trotzdem erschrecke ich, wenn ich in den Spiegel schaue. War heute zum ersten Mal auf der Toilette, am zweiten Tag nach der Operation. Das hat mich ermuntert, trotz der Blutflasche in der Rechten und der Schwester zur Linken.“ Die österreichisch-ostdeutsche Autorin hatte Grund zum Klagen. Ein Jahr nach ihrem Tagebucheintrag starb Wander an Krebs.

Fünfhundert Jahre reicht die Geschichte des Tagebuchs zurück. Kurz nach Erfindung des Buchdrucks werden kalendarische Chroniken verlegt, „Tagbücher“, die für jeden Tag Denk- und Merkwürdigkeiten aus der Geschichte offerieren. Die Ausstellung präsentiert ein Prachtexemplar: das „Calendarium Historicum“ von 1594, das um 1700 in den Besitz des Halleschen Theologen Heinrich Milde gelangte. Milde macht den in Pergament gebundenen Folianten zu seiner Privatchronik, indem er in schwungvoller Handschrift eigene Anmerkungen neben und unter die gedruckten Spalten setzt. Er zitiert Gelesenes und Gehörtes, hält den Tod Ludwig XIV. oder den Mord an einem Studenten fest. Immer wieder beendet er Einträge mit einem enthusiastischen „Halleluja“.

Viele der Tagebücher stammen aus dem Deutschen Tagebucharchiv in Emmendingen. Da gibt es in kleinster Schrift beschriebene Tischtagebücher von Geschäftsleuten, „Kalender für Damen“ aus dem 19. Jahrhundert und komplette Lebenswerke, wie die 39 Poesiealben, die Hanne M. 43 Jahre lang vollschrieb. „Ein belangloser Tag“, vermerkt Barbara M. am 2. April 1976. „Aufstehen, Schule gehen, wo es im Augenblick sehr langweilig ist.“ Wie man aus Belanglosigkeiten ein Jahrhundertwerk arrangieren kann, das hat Walter Kempowski mit „Echolot“ demonstriert, seinem kollektiven Tagebuch, an dem er zwanzig Jahre arbeitete. Das „Echolot“ erzählt in biografischen Bruchstücken von den Schrecken des 20. Jahrhunderts. Pappschuber mit Einsendungen für sein Archiv ermöglichen einen Blick in Kempowskis Werkstatt.

Das erfolgreichste Tagebuch ist das von Anne Frank: Es wurde in 65 Sprachen übersetzt und weltweit 30 Millionen Exemplare verkauft. Die Aufzeichnungen beginnen am 12. Juni 1942, ihrem 13. Geburtstag, an dem Anne ein Tagebuch geschenkt bekommt. Vier Wochen später zieht die Familie in ihr Amsterdamer Dachkammerversteck, um der Deportation zu entgehen. Im August 1944 werden die Franks denunziert und verhaftet, Anne stirbt in Bergen-Belsen. „Himmelhochjauchzend bin ich, wenn ich daran denke, wie gut wir es hier haben, besonders im Vergleich zu anderen jüdischen Menschen“, lautet eine Notiz. „Zu Tode betrübt, ja, es überfällt mich, wenn ich höre, wie das Leben draußen weitergeht.“ Im Raum nebenan werden die Tagebücher von Joseph Goebbels gezeigt.

Mit Rainald Goetz kommt das Schriftstellertagebuch im Internet an. Hier findet seine manische Selbst- und Weltbeobachtung das passende Medium. Die Ausstellung präsentiert eine Kladde, in der Goetz für sein Projekt „Festung“ die Fernsehmitschrift „1989“ festhielt, eine Sammlung von Floskeln und Nullsätzen wie „London ist die Musikhauptstadt der Welt“ oder „Wir hoffen, dass Sie einen guten Empfang hatten, guten Abend“. Daneben: Goetz’ Internettagebuch „Abfall für alle“ (1998/99) und sein Blog „Klage“ (2007). Die beeindruckendsten Exponate stammen von dem Zimmermann Hans Gröner. Als er 1994 mit 80 Jahren in Hannover starb, entdeckten seine Angehörigen Holzklötze, die er mit Notizen gefüllt hatte. „Himmelfahrt. Flugschau, starker Ostwind.“ Oder: „Bei Oma noch keine Besserung. Hoffentlich wird es bald besser.“

Museum für Kommunikation, Leipziger Str. 16, bis 30. August, Di–Fr 9–17, Sa/So 10–18 Uhr.

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