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Illegal in Russland. Samal Yeslyamova spielt die Kirgisin Ayka.

© Neue Visionen

„Ayka“ von Sergey Dvortsevoy: Ich muss hinaus in die Kälte, mein Kind

Survival-Drama im meteorologischen Ausnahmezustand: In „Ayka“ von Sergey Dvortsevoy schlägt sich eine Arbeitsmigrantin durch das eisige Moskau.

Die vier neugeborenen Babys, die die Kamera in der ersten Einstellung von „Ayka“ bildfüllend ins Visier nimmt, ruckeln wie auf dem Förderband. Zu kleinen Paketen gewickelt liegen sie eng nebeneinander, das polternde Geräusch der Räder erinnert mehr an eine Schubkarre als an einen Kinderwagen. Eines der Babys hat Ayka (Samal Yeslamova) zur Welt gebracht – eine Kirgisin, die als illegale Arbeitsmigrantin in der russischen Hauptstadt lebt. Und weil es keine Zeit und kein Geld zu verlieren gilt, türmt sie eine Szene später schon wie eine Gefängnisausbrecherin aus dem Krankenhaus: durchs Badezimmerfenster, hinaus in den eisigen Moskauer Winter, das Kind lässt sie zurück.

Der 1962 geborene kasachische Regisseur Sergey Dvortsevoy („Tulpan“), dessen Karriere als Dokumentarfilmer begann, erzählt Aykas Geschichte als Survival-Drama im meteorologischen Ausnahmezustand. Der stärkste Schneesturm seit 100 Jahren hat den grauen Moloch im Griff, Schneepflüge wälzen sich wie Panzerkolonnen durchs Bild, in den TV-Nachrichten ist von der Rache der Natur am Menschen die Rede. Für die von der Geburt noch völlig geschwächte Ayka ist das Schneegestöber nur eine weitere Gewalt, gegen die sie auf ihrem beinharten Hindernisparcours anzukämpfen hat. Manchmal hat die Handkamera fast Mühe, mit der jungen Frau Schritt zu halten.

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Aykas erste Station ist eine Hühnerschlachterei. „Mehr Feuer“ schreien die Aufseher, während die Arbeiterinnen mit der Brachialität von Hächselmaschinen Federn rupfen und Innereien ausnehmen. Am Ende sind die Männer mit den Hühnern und der versprochenen Bezahlung auf und davon. Ein anderer Job ist während Aykas Abwesenheit von einer anderen Frau eingenommen worden. Ayka wütet, bettelt, schlägt – und wird geschlagen. Beim Schneeschippen, wo sie kurzfristig als Aushilfe einspringt, versagen ihr die Kräfte. Auf der Suche nach Arbeit telefoniert sie hektisch herum, hetzt hierhin, hetzt dorthin. Dabei wird sie fortlaufend mit Anrufen traktiert. Mafiöse Gläubiger verlangen ihr Geld. Sie drohen mit abgeschnittenen Fingern und Schlimmerem.

In einer schäbigen Wohnung, deren Fenster mit schwarzer Plastikfolie verklebt sind, haust Ayka mit einer unübersichtlichen Zahl anderer Migranten. Erschöpft sinkt sie auf ihre Matratze, eine Tüte mit Eiszapfen zwischen den Beinen – die Folgen der Geburt machen sich schmerzhaft bemerkbar, sie leidet an Blutungen und Milchstau. Hinter den abgehängten Tüchern, die ein wenig Privatheit herstellen, reden die Frauen den Verwandten am Telefon ihr Elend schön. Verkehr, Handygeklingel, Aykas Keuchen sowie andauerndes Geschrei verdichten sich zu einem vielstimmigen Geräuschteppich. „Ayka“ ist ein permanent vorwärts drängender, vorwärts stürzender Film – „Erfolg bedeutet Treppen steigen und nicht auf die Rolltreppe zu warten ... es ist eine Bewegung nach vorne“, erklärt ein Coach für Arbeitsmigranten. Der vitalistische Drive des Films kann die dahinterliegende Mechanik jedoch kaum verbergen. Dvortsevoy treibt seine Titelfigur, für deren Verkörperung Yeslamova letztes Jahr in Cannes mit dem Preis als beste Darstellerin ausgezeichnet wurde, erbarmungslos von einer Stresssituation in die nächste. Damit befindet sich „Ayka“ in bester Gesellschaft mit einem sozialrealistischen Kino, das die Unmenschlichkeit der spätkapitalistischen Gesellschaft anhand seiner – oft weiblichen – Hauptfiguren durchspielt. Allerdings verzichtet Dvortsevoy auf die üblichen dramaturgischen Auspoltsterungen, wenn er Ayka auf ein Instinktwesen mit schweißverklebten Haaren verkürzt. In seiner Konsequenz ist das zumindest bemerkenswert.

Allein in einer Tierklinik, wo Ayka Hilfe von einer kirgisischen Putzfrau erhält, gönnt Dvortsevoy ihr ein wenig menschliche Zuwendung. Hier findet der Film allerdings auch zu seiner schlichtesten Metapher, wenn er mit dem Bild einer Hündin, die vor der bevorstehenden Operation noch ihre Jungen säugt, an die ohnehin ständig präsente Ausgangssituation anschließt. 248 Babys sollen im Jahr 2010 allein in Moskauer Geburtskliniken aufgegeben worden sein – von Müttern aus Kirgisien wohlgemerkt. Dvortsevoy ließ sich von dieser Meldung zum Film inspirieren.

Der Mechanismus, in dem Ayka gefangen ist und in dem sie immer etwas zu spät dran ist, lässt sich weder anhalten noch umlenken. Einmal versucht sie es trotzdem. In ihrer größten Verzweiflung verlässt sie der Film.

Delphi LUX, OmU: Hackesche Höfe, Krokodil, Lichtblick, Moviemento

Esther Buss

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