zum Hauptinhalt

Kultur: Bahn frei für die Willkür

Samuel Salzborn über die autoritären und völkischen Tendenzen in Ungarn

Herr Salzborn, verstehen Sie als Politikwissenschaftler die europaweite Aufregung über das neue ungarische Mediengesetz?

Das Gesetz hat zwar nur nationale Gültigkeit, ist aber mit wesentlichen europäischen Verfassungsprinzipien unvereinbar. Es steht im Widerspruch zu den Grundgedanken demokratischer Rechtsstaatlichkeit. Ich finde es bemerkenswert, dass Ungarn dieses Gesetz einerseits zu Anfang des Jahres in Kraft gesetzt hat und andererseits erklärt, nach Abgabe der EU-Ratspräsidentschaft Revisionen vorzunehmen.

Wo liegen für Sie die Probleme?

In der Rechtskonstituierung und in der politischen Praxis. Mir scheint, dass man momentan nur die Praxis kritisiert – etwa die Besetzung der neuen Medienbehörde mit rechtskonservativen Mitgliedern, oder die personelle Abhängigkeit, die zwischen der Behörde und der ungarischen Regierung besteht. Aber das grundlegende Problem ist der Scheincharakter des Gesetzes. Wir finden eine Fülle von Klauseln, die mit außerrechtlichen Kategorien wie den „guten Sitten“ arbeiten, also Dingen, die subjektiv sind. Erhebt man sie einmal in den Gesetzesrang, ist der Willkür Tür und Tor geöffnet.

Der Gesetzesvorschlag wurde nicht vom zuständigen Komitee für Kultur und Presse des Parlaments vorgelegt, sondern als Eingabe von drei Abgeordneten, weshalb er nicht den üblichen Weg über die Kontrollgremien durchlaufen musste.

Der gesamte Prozess ist voller Ungereimtheiten. Die Entwicklung ist dabei ohne Zweifel autoritär. Wir machen in Europa unter der EU-Ratspräsidentschaft von Ungarn einen Entwicklungsprozess durch, bei dem es fraglich ist, ob Ungarn überhaupt legitimerweise weiterhin Mitglied der Europäischen Union sein sollte.

Würden Sie das Wort Diktatur benutzen?

Diktaturen werden meist durch gewalttätige Umbrüche etabliert, aber der Prozess kann auch schleichend vonstatten gehen. Wenn man das Mediengesetz mit der zunehmenden Ethnisierung der ungarischen Innenpolitik und dem völkischen Umgang mit den so genannten Auslandsungarn in Zusammenhang bringt, dann zeigen sich hier in der Tat Konturen eines autoritären Regimes.

Von innen bildet sich bereits ziviler Widerstand, aber was kann die EU tun?

Die Europäische Union reagiert viel zu zurückhaltend. Es wäre an der Zeit, den Schmusekurs zu beenden, den die EU gegenüber autoritären Regimen immer wieder einschlägt, wie etwa auch gegenüber dem Iran. Mit Blick auf Ungarn sind harte Positionierungen gefragt und durchaus auch Sanktionen. Wenn ein System sich offen gegen die Grundwerte von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie stellt, dann kann man, wie alle historischen Beispiele zeigen, nichts erreichen, wenn man diesem Regime Zugeständnisse macht.

Das völkische Denken ist in Ungarn und in den ehemaligen sozialistischen Ländern weitverbreitet. Dieser Ethnisierung entspricht auch das neue Staatsbürgerschaftsgesetz, das nach dem „ius sanguinis“-Prinzip besagt: Ungarischer Staatsbürger ist nunmehr, dessen Vorfahre „aus dem historischen Ungarn“ stammt.

Die Problematik einer solchen Regelung besteht darin, dass sie in erster Linie als außenpolitisches Instrument eingesetzt werden soll. Menschen, die seit Jahrzehnten in anderen Staaten leben und dort auch integriert sind, werden plötzlich für ungarische Interessen mobilisiert. Damit werden in den Nachbarstaaten soziale und politische Konflikte verstärkt oder sogar erst geschürt.

Man hört immer wieder, dass Ungarn für eine kulturelle oder gar eine umfassende Autonomie der magyarischen Minderheiten in den Nachbarländern kämpft. Der gegenwärtige Staatssekretär im Außenministerium, Zsolt Németh, sagte vor einem Dreivierteljahr sogar: „Es gibt kein anderes politisches Ziel, das den Interessen der Auslandsmagyaren in den umliegenden Ländern so eindeutig und klar dienen würde wie die Autonomie.“

Was will man mit einer solchen Regelung gewinnen? Wir haben im europäischen Kontext eine ganze Reihe von Freiheiten realisiert, Grund- und Menschenrechte, nicht zuletzt die Niederlassungsfreiheit. Auf individueller Ebene gewährleistet die EU einen großen Rahmen zur freien Entfaltung der Persönlichkeit. Was will man also mehr? Ungarn geht es aber offensichtlich nicht um das Individuum, sondern um den Menschen als – halluzinierten – Teil einer kulturellen Gemeinschaft. Diese Vorstellung unterscheidet sich von der einer pluralistischen Gesellschaft aber gerade dadurch, dass sie als homogen und letztlich unveränderlich unterstellt wird: Das Individuum zählt nichts, das Kollektiv alles. Der Mensch wird auf diese Weise in ein ethnopolitisches Kollektivgefängnis gesperrt.

Das Gespräch führte Magdalena Marsovszky. Am Mittwoch, den 2. Februar, veranstaltet das Collegium Hungaricum Berlin um 19 Uhr eine Debatte zum Mediengesetz, u. a. mit Gergely Pröhle, Staatssekretär im ungarischen Außenministerium, und András Koltay vom Medienrat der ungarischen Behörde NMHH. Eintritt frei.

Samuel Salzborn lehrt Politikwissenschaft mit Schwerpunkt

Demokratieforschung an der Justus-

Liebig-Universität

in Gießen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false