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Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin in der Royal Albert Hall.

© Peter Meisel

BBC Proms in London: Da bebt die Royal Albert Hall

Bei ihrem Debüt in der Londoner Royal Albert Hall begeistern Chefdirigent Vladimir Jurowski und sein Rundfunk-Sinfonieorchester das Publikum der Proms.

Edward Elgars „Pomp and Circumstance“-Marsch Nummer 1 erklingt, es wird kollektiv „Rule Britannia“ gesungen, lustige Engländer in ulkigen Outfits vollführen dazu skurrile Rituale: Die „Last Night of the Proms“ aus der Londoner Royal Albert Hall ist fast so berühmt wie das Wiener Neujahrskonzert. Denn beides sind globale Fernsehereignisse, die auch Millionen von Menschen erreichen, die sich sonst kaum für Klassik interessieren.

Doch während das Neujahrskonzert stets ein Einzelevent ist, bildet die „Last Night“ die Spitze eines sinfonischen Eisbergs, die Narrenkappe eines hochseriösen Orchesterfestivals, das Vladimir Jurowski als „das wichtigste der Welt“ bezeichnet. In diesem Jahr bieten die „Proms“ von Juli bis September insgesamt 71 Veranstaltungen – für allabendlich 6000 Besucherinnen und Besucher, die bei einer Konzertbespielung in die gigantische Albert Hall passen.

6000 Plätze bietet die Halle bei Konzerten

Darum hat der Chefdirigent des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin auch hart daran gearbeitet, dass das RSB in diesem Sommer nach London eingeladen wird. Denn es feiert 2023 sein 100. Gründungsjubiläum und ist damit nur ein Jahr jünger als das traditionsreichste der fünf BBC-Orchester, das Philharmonic aus Manchester. Die British Broadcasting Company ist der Veranstalter des 1941 von Sir Henry Wood gegründeten „Promenades“-Festivals.

Dirigent Vladimir Jurowski (links) und Pianist Kirill Gerstein bei der Probe in der Royal Albert Hall.

© Peter Meisel

Sinfonisches war bis dahin zwar immer mal wieder in der Royal Albert Hall zu hören gewesen, doch der nach dem deutschen Gatten der Queen Victoria benannte Prachtbau am südlichen Rande des Hyde Parks diente zunächst als klassische Mehrzweckhalle: Von der Ärztetagung bis zur Autoshow reichte der kunterbunte Nutzungsmix.

Auch heute noch darf sich hier jeder einmieten, der es sich leisten kann. Tennisturniere finden ebenso statt wie Sumoringer- und Box-Wettkämpfe. Außerdem lässt sich mit Pop- und Rock-Konzerten das riesige Rund natürlich leichter füllen als mit ernster Musik. Am Donnerstag allerdings, beim Auftritt der Berliner Gäste, sind die Reihen bestens besetzt. Denn Vladimir Jurowski ist auch in Großbritannien ein big name.

Bevor er das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin und die Münchner Staatsoper als Chefdirigent übernahm, hatte er höchst erfolgreich als musical director beim südenglischen Glyndebourne Opernfestival gewirkt und anschließend beim London Philharmonic Orchestra. Er kennt also die Halle und ihre akustischen Tücken. Bei den Proben im leeren Raum, erzählt er, klinge es hier wie in einer Turnhalle, abends, wenn das Publikum mit Eis und Getränken in Plastikbechern Platz genommen hat, fühlten sich die Musikerinnen und Musiker dagegen wie in einer Keksdose. „Man darf hier also auf keinen Fall ängstlich sein und defensiv spielen.“

Prachtvolles Ambiente

Einschüchternd aber kann das Ambiente auf Debütanten schon wirken. Die Architektur der Royal Albert Hall – ein wilder Mix aus römischer Kolosseum-Antike und Neorenaissance – feiert die Macht des Britischen Empire, das sich bei der Eröffnung 1871 auf seinem absoluten Höhepunkt befand. Zusammen mit den anderen Repräsentationsbauten in der City, seien es die großen Museen oder auch die monumentalen Kaufhaus-Konsumtempel, ergibt sich auch in trüben Brexit-Zeiten immer noch eine Kulisse von unübertroffener Prachtentfaltung.

Im Innern der Royal Albert Hall sind die Publikumsbereiche raffiniert gestaffelt: Da ist die Arena in der Mitte, wo die Promenaders stehen – an das namensgebende Promenieren ist angesichts der dicht gedrängten Menge hier allerdings nicht zu denken. Dafür kosten die Tickets nur acht Pfund.

Die Spannung steigt: Musiker des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin warten auf ihren Auftritt.

© Peter Meisel

Um die Arena legt sich ein ringförmiges Parkett, über dem sich wie in einem traditionellen italienischen Theater dann drei Logen-Reihen erheben. Schließlich folgen weitere, steil ansteigende Sitzreihen – und ganz oben, zwischen den Säulen und Rundbögen gibt es noch einmal jede Menge Stehplätze. Exakter lässt sich die britische Klassengesellschaft nicht abbilden.

„Nicht die Lautstärke es Applauses ist hier das Außergewöhnlichste“, hatte Vladimir Jurowski vor dem Konzert gesagt, „sondern die Still, die von den vielen Leuten ausgeht.“ Beim RSB-Auftritt ist sie intensiv zu spüren. Hier lauscht ein Kenner-Publikum mit Neugier und hoher Konzentrationsfähigkeit. Das von Jurowski konzipierte Programm bemüht sich aber auch wirklich darum, die Gunst der Massen zu gewinnen: Auf einen schmissigen Opener folgt, als Hommage an die Gastgeber, das Werk eines britischen Komponisten, und als Höhepunkt eine spätromantisch-schwelgerische Sinfonie.

Vitale Dreigroschenoper

Ein echter Coup ist Kurt Weills „Kleine Dreigroschenmusik“: Denn sie steht prototypische für das coolste Berlin, das es je gab – und gleichzeitig spielt die Handlung des Stücks von Bertolt Brecht und Kurt Weill ja in London. Nicht als aasige Arbeiterkapelle treten die Bläser des RSB hier an, sondern als exquisites Solistenensemble. Höchst präzise, mit Glanz und Eleganz präsentieren sie die Melodien von Macke Messer und seiner Unterwelt-Entourage.

Während die mittlerweile 94 Jahre alte Weill-Partitur weiterhin wirklich vital wirkt, hat das 2018 uraufgeführte Klavierkonzert von Thomas Adès eine altmodische Anmutung. Gewiss, der Pianist Kirill Gerstein, für den der hochgeschätzte Brite das Werk geschrieben hat, spielt den brillanten Solopart mit einer stupenden Mühelosigkeit. Doch je länger man zuhört, desto mehr fühlt man sich an Maurice Ravel und George Gershwin erinnert, also an Komponisten der 1920er Jahre. Nur eben ästhetisch leicht verrutscht, durch Dissonanzen-Würzung und einen absurd komplexen Mix von extravaganten Metren.

Nachdem die Stehplatzgemeinde bereits das Öffnen des Flügels mit einem kollektiven „Hi-Ho“ kommentiert hatte, erschreckt sie RSB-Konzertmeister Erez Ofer durch ein weiteres Kalauer-Ritual: Kaum hat er auf der Tastatur die traditionell zur Feinstimmung des Orchesters verwendete Note „A“ angeschlagen, brechen die Promenaders in Bravo-Rufe aus, als hätte er gerade eine Meisterleistung vollbracht.

Jubel gibt es dann – absolut verdient – auch nach Sergej Rachmaninows dritter Sinfonie. Denn das RSB zeigt sich hier in absoluter Top-Form. Ein leidenschaftlicher Puls treibt Vladimir Jurowskis quecksilbrige Interpretation an, bei der erst stets souveräner Koordinator und emotionales Kraftzentrum bleibt, in idealer Synthese von Intellekt und Bauchgefühl. Herrlich erblühen die samtweichen Melodien, wild bewegt geht es durch zerklüftetes klangliches Gelände, bis hin zum Klangrausch des Finales, das auf beeindruckend weltmännischste Weise sein Ziel erreicht.

Die Engländer haben eine wunderbare Formulierung für solche einmaligen akustischen Ereignisse: The orchestra did blow the roof of – das Orchester hat das Dach abheben lassen.

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