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Kultur: Bei Nacht sind alle Gamben grau - das "Festival van Vlaanderen" ruft jeden Sommer die Anhänger von Darmsaiten und Krummhörnern zusammen

Sein eigentliches Gesicht offenbart Brügge erst in den Abendstunden. Wenn all die Ausflügler, die tagsüber die Stadt zum wimmelnden Ameisenhaufen umfunktionieren, längst wieder in die Seebäder heimgefahren und die mittelalterlichen Gassen wie leergefegt sind.

Sein eigentliches Gesicht offenbart Brügge erst in den Abendstunden. Wenn all die Ausflügler, die tagsüber die Stadt zum wimmelnden Ameisenhaufen umfunktionieren, längst wieder in die Seebäder heimgefahren und die mittelalterlichen Gassen wie leergefegt sind. Dann ist Brügge die "Tote Stadt" , wie sie im Roman "Bruges la morte" des belgischen Symbolisten Georges Rodenbach beschworen wird. Eine Kulisse, in der schon ein vereinzeltes Gelächter den Beiklang einer gespenstischen Episode besitzt, und ein mitternächtliches Zeremoniell wie die Verkündung der Preisträger des alljährlichen Alte-Musik-Wettbewerbs eher einem Examensalptraum gleicht. Im neogotischen Ratssaal der Stadt sitzen die Preisrichter auf ihren lederbezogenen Lehnsesseln am Gerichtstisch, vom Markt dringt Glockengeläut herüber. Wie viele Träume (und etliche Kunstwerke des belgischen Surraelismus) wendet sich das Unheimliche unversehens ins Groteske - als der "Gerichtsvorsitzende" beginnt, eine halbstündige Litanei von Haupt-, Neben-, und Extrapreisen nebst Dotationen zu verlesen und damit der Liste von Laureaten aus 36 Wettbewerbsjahren ein weiteres Kapitel hinzuzufügen.

Doch ein solches Ritual besitzt in dieser fremdbelebten Stadt seine eigene Selbstverständlichkeit - fast scheint es, als ob sich ein eigenes kulturelles Leben nur im Schutz der alten Gemäuer und nach Abzug der Rucksäckler und Reisegruppen entfalten kann, als ob ein Heraufbeschwören der alten musikalischen Herrlichkeit nur in der Stille möglich ist. Denkbar unpassend ist für diesen Beschwörungsakt das Etikett "Festival", so fernab jeglichen Rummels und gesellschaftlichen Gesehenwerdens finden die allabendlichen Konzerte Anfang August in den Kirchen Brügges statt. Lediglich ein unspektakuläres Plakat weist in der Stadt überhaupt auf die Existenz des "Festivals van Vlaanderen Brugge" hin, als wollten die Anhänger von Renaissance-Madrigalen und barocker Gambenmusik unter sich bleiben.

Ein irritierendes Paradox, ist doch andererseits das "Festival van Vlaanderen" mit über 300 Konzerten im Sommerhalbjahr eine der größten Veranstaltungen seiner Art weltweit und eines der wichtigsten kulturellen Aushängeschilder Belgiens. Und hat doch Brügge als einer der wichtigsten Austragungsorte eine musikalische Vergangenheit, die sich an Salzburg oder Venedig messen kann. Bereits für 1127 sei für Brügge das Vorhandensein einer Orgel bezeugt, erzählt Festivalleiter Stefan Dewitte, Instrumente aus Brügge seien bis ins 17. Jahrhundert hinein nach ganz Europa exportiert worden. "Deshalb hat das Festival in den sechziger Jahren auch mit Orgelmusik und polyphoner Vokalmusik begonnen, die ganze übrige Alte Musik ist erst ab 1971 Stück für Stück dazugekommen, als Frans Brüggen einen Wettbewerb für Blockflöte und Ensemble anregte."

Das Verzeichnis der Wettbewerbsgewinner und Jurymitglieder liest sich wie ein Who is who der Alten Musik: Im Cembalowettbewerb 1983 etwa saßen mit Kenneth Gilbert, Gustav Leonhardt, Trevor Pinnock und Christopher Hogwood die wichtigsten Cembalisten in der Jury, die Preisträger von damals, Christophe Rousset und Pierre Hantai sind heute an deren Stelle nachgerückt (Dass der diesjährige erste Preisträger, der japanische Geiger Takeshi Kiriyama, dagegen nicht sonderlich charismatisch wirkte, mag als Ausbeute eines schwächeren Jahres durchgehen). Seit 1964 ist Brügge in die Rolle eines internationalen Spezialisten-Forums hineingewachsen, vor allem aufgrund des konsequenten Kurses von Dewitte, der das Festival von Anfang an organisierte und jeden Schritt in Richtung auf Massenspektakel mit "Vier Jahreszeiten" und "Feuerwerksmusik" vermieden hat.

Statt der internationalen Reisekammerorchester findet man auf dem Brügger Konzertplan überwiegend Spezialisten-Formationen mit Raritäten-Programmen wie einem ausschließlich dem spanischen Renaissance-Komponisten Alonso Mudarra gewidmeten Konzert oder einer einstündigen "Leçon de ténèbre" des französischen Barockmeisters François Couperins. Brügge ist kein Festival für Zaungäste, die das Bekannte in stimmungsvoller Kulisse suchen, sondern eher für diejenigen gedacht, die auf Entdeckungen aus sind und die an den Brügger Kirchen die gute Akustik schätzen. Eine Fachbörse, an der die Trends im Alte-Musik-Sektor gehandelt werden: Im Moment ist das vor allem die Fortentwicklung der historisierenden Musizierpraxis ins 19. Jahrhundert hinein.

Mehr noch als in einzelnen Konzertprogrammen (Chopin auf dem Fortepiano oder Schubert mit Barockcello) sind diese Tendenzen am jährlich in unterschiedlichen Sparten ausgeschriebenen Wettbewerb spürbar. "Wir haben dieses Jahr unter anderem mit der historischen Klarinette eine Disziplin dabei, die stark im Kommen ist und für die es sonst keinerlei Wettbewerbe gibt", erklärt Dewitte. "Diesmal haben sich zwar erst zwei Teilnehmer gemeldet, aber beim nächsten Mal sind es sicher schon viel mehr. Im Fach Barockvioline sind wir auch mit zwei, drei Teilnehmern gestartet, und in diesem Jahr hatten wir 44 Anmeldungen." Die Barockvioline steht damit unter den internationalen Instrumentalisten am höchsten im Kurs, sowohl weil immer mehr Kammerorchester mit Originalinstrumenten den Barockgeigern ein gesichertes Auskommen versprechen als auch weil die Konkurrenz unter den "regulären" Geigern immer stärker und die Spezialistennische als Ausweg dementsprechend attraktiver wird. Stark abgenommen haben dagegen die Modeinstrumente der siebziger Jahre, Laute und Blockflöte, für die sich immer weniger Teilnehmer melden.

Gleichgeblieben ist über die Jahrzehnte nicht nur die künstlerische Ausrichtung, sondern auch die geringe finanzielle Ausstatttung des Festivals. Gerade 900 000 Mark hat Dewitte für den zweiwöchigen Konzertzyklus im Sommer (mit zwei Konzerten pro Tag) und eine weitere, kleinere Reihe im Herbst zur Verfügung, inklusive der Kosten für Wettbewerbsausrichtung und Organisation. Eine Sekretärin wird hauptamtlich beschäftigt, alle anderen inklusive Dewitte selbst arbeiten nur für geringe Aufwandsentschädigungen. Ein verglichen mit anderen Festivals konkurrenzlos niedriger Etat mit ebenso konkurrenzlos niedrigen Eintrittspreisen von durchschnittlich dreißig Mark. Doch Festivals wie Brügge haben es nach wie vor schwer bei Sponsoren und Politikern - mit Gambenmusik gewinnt man weder Wählerstimmen noch Großkunden. Aber das ist vielleicht sogarganz gut so.

Jörg Königsdorf

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