zum Hauptinhalt

Kultur: Berlin 1927

Von Sergej Timofejew

Der Schriftsteller tanzt mit der kurzhaarigen

Frau, zitternd ihre zarte Taille,

ihre unerwartet kräftigen Schultern an sich ziehend.

Die Frau spricht Finnisch, und ihre grell geschminkten Lippen

falten ein schmerzliches Lächeln auf.

Der Schriftsteller denkt, auch sie, seine Partnerin,

müsse eine Vergangenheit haben, eine Kindheit, von der er nichts

wisse, eine Jugend,

von der er fast nichts wisse; denkt es, um alles erneut zu vergessen.

Das gesittete Orchester durchdringt den Abend

mit einem altmodischen Tango. Die Frau hält auf der Schulter

des Schriftstellers inne und gibt ihm einen ruhig-leidenschaftlichen

Kuss, als gestehe

sie ihre Zärtlichkeit allem und jedem ein. Der Schriftsteller

hat einen kleinen Kopf und einen vorsichtig müden Mund.

Der Kellner erstarrt für einen Augenblick vor dem neuen Gast,

sich mit einem halben Diener verbeugend. Die Nacht verknäuelt:

bis zum Morgen

bleibt ihnen nur eine Stunde. Sie könnten tanzen, sie könnten

Champagner trinken. Er könnte ihr von Waterloo erzählen,

und wie im milchigen Nebel die Sonne

der Niederlage aufging. Sie würde rein gar nichts verstehen und ihn

ein weiteres Mal

zum Tanzen auffordern. Die schönen Blumenhändlerinnen des

frühen Tages

riefen sie beim Namen, böten ihnen ihre Sträuße an.

Aus dem Russischen von Martina Jakobson.

– Sergej Timofejew, 1970 im heute lettischen Riga geboren, liest am

Samstag, den 18.9., um 20.30 Uhr bei der Poetry Night III

im Deutschen Theater.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false