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BERLIN FESTIVAL BANDPORTRÄT: Mit Mama in die Disco

Von Reykjavík nach Berlin: Die isländische Band Retro Stefson wohnt in einer Moabiter WG. Der wilde Stilmix des Septetts entsteht spontan im Probenraum. Am Samstag treten sie auf

Afropop, Eurodisco, Heavy Metal – die junge Band ist äußerst experimentierfreudig

Irgendwann fangen Retro Stefson dann an, die Zuschauer zum Mitmachen aufzufordern. Das Jaulen der Geister, so sagen sie, solle die eine Hälfte des Publikums nachahmen. Die andere Hälfte bekommt die Rolle des Winds zugeschrieben. Das ist gar nicht so einfach. Wie bitteschön klingen Geister? Bei einem anderen Song sind es „YMCA“-ähnliche Handbewegungen, die man einstudieren und im richtigen Moment platzieren soll. Audience Participation nennt man das wohl, und eigentlich ist so etwas ziemlich furchtbar. Warum es an jenem Juniabend auf einer Wiese irgendwo hinter Neustrelitz trotzdem funktioniert, ist eine gute Frage. Vielleicht, weil Retro Stefson das etwas abgenudelte Kommunikationsmodell auf eine ziemlich eigene Art und Weise interpretieren. Vielleicht auch, weil Percussionist und Backing-Sänger Haraldur Ari Stefánsson, der sich in der Band um choreografische Dinge kümmert, dabei ziemlich streng guckt. Vielleicht aber auch, und das ist am wahrscheinlichsten, weil der rhythmisierter Pop-Mix des Septetts vorher eine halbe Stunde lang für gehörige Temperatursteigerungen in und um die Zeltbühne des Immergut-Festivals sorgte.

Dass ausgerechnet Retro Stefson, diese doch sehr eigenen und sehr jungen Isländer – alle sind sie um die 20 –, eine der Pop-Überraschungen des Sommers werden würden, hätte vor noch einem Jahr wohl niemand gedacht. Außerhalb jener kleinen Gemeinde deutscher Popfans, die jährlich im Herbst nach Reykjavík pilgern, um auf dem „Iceland Airwaves“-Festival drei Tage lang der traditionell sperrigen Islandvariante populärer Musik zu lauschen, hatte die Band niemand auf dem Zettel. Und es erstaunt noch mehr, dass „Kimbabwe“, das zweite Album der Band, bei einem Majorlabel erscheint und die Band kürzlich ihren Wohnsitz nach Berlin verlegte.

Dabei begann alles mit einem Zufall: Retro Stefson gründeten sich vor gut fünf Jahren weniger aus einem gemeinsamen Interesse an Musik heraus, als auf einen gewissen Druck hin, den die Verantwortlichen ihres Jugendzentrums auf sie ausübten. Es handelte sich dabei um Mitglieder der Formationen Reykjavík! und FM Belfast. Sie brauchten jemanden, der sie bei einem lokalen Bandwettbewerb vertreten würde. Ihnen war das Talent von Sänger und Texter Unnsteinn Manuel Stefánsson aufgefallen. Den Bandwettbewerb verloren Retro Stefson. Das machte aber nichts, denn Island ist klein. Jeder kennt jeden, es gibt viele Bands. Wenige Monate nach der Gründung spielten Retro Stefson beim Iceland Airwaves, eineinhalb Jahre später erschien mit „Montaña“ das Debütalbum bei einem kleinen Isländer Label. In den Folgejahren wuchs die Popularität stetig.

Gleichzeitig entwickelte die Band ihre heutige musikalische Sprache, die durchaus bemerkenswert ist, weil sie jenseits aller feststellbaren Trends, jenseits aller Schubladen stattfindet. Retro Stefson mischen vielerlei. Es kommt nicht von ungefähr, dass Afropop im Sinne Fela Kutis oder der einschlägigen Experimente Paul Simons eines der zentralen Motive ist: Unnsteinn Manuel Stefánsson und sein kleiner Bruder Logi Pedro, der den Bass bedient – der Percussionist Haraldur trägt den gleichen Nachnamen nur zufällig –, haben eine angolanische Mutter und wuchsen zu großen Teilen in Portugal auf. Für sie ist das Musizieren also auch eine Suche nach Wurzeln, die sie mit wenigen anderen Isländern teilen. Die Sprache, auf die jene Wurzeln zurückgehen: das von etwa drei Millionen Menschen gesprochene Kimbundu. „Ich würde das wirklich gerne lernen“, sagt Unnsteinn. Das Problem: Lexika im klassischen Sinne gäbe es nicht.

Doch wo artverwandte Bands wie Vampire Weekend oder The Very Best den Afropop als Basis melodiöser Popsongs nutzen, gehen Retro Stefson weiter. Das größtenteils selbstproduzierte „Kimbabwe“ spannt einen Bogen von Afropop bis zu Disco, von Eurodance bis zu Easy Listening. Zwischen all dem bleibt Platz für große Pop-Melodien, aber auch für deftige Rockgitarren der Van-Halen-Schule. Das ist ziemlich lustig, weil Rockmusik im Rezeptionsraster der Band sonst kaum vorkommt. Auch der Duktus wechselt – da finden sich afrikanische Ausdrücke ebenso wie ein bisschen Isländisch, Portugiesisch und Englisch. Das Ergebnis sind Songs, die weniger über Inhalte als über ihre Inszenierung funktionieren. Etwa „Mama Angola“ mit seinen Dissonanzen, mit seinen Afrika-Chören und seinem Xylophon. Oder „Kimba“, ein eindrucksvolles Disco-Crescendo mit einprägsamen Funk-Basslauf.

Aber wieso passt das alles zusammen? Und warum schaffen es Retro Stefson, im Unterschied zu all den anderen jungen Bands, die Jahr für Jahr durch die einschlägigen Blogs getrieben werden, sich so geschickt allen Vergleichen, allen Einordnungen zu entziehen? Ein Treffen mit der Band sorgt nur für bedingten Erkenntnisgewinn. Es scheint eine Mischung aus musikalischer Trittsicherheit und Unbefangenheit zu sein, die den Kreativprozess der Band ausmacht: Musikstile werden aus ihrer Tradition entkoppelt und einfach neu zusammengesetzt. Analoges Sampling, das weniger Regeln folgt als Launen: „Manchmal sind wir in unserem Proberaum und musizieren. Dann schreit einer von uns ,Heavy Metal’ und wir spielen eben Heavy Metal. Danach ruft jemand ,Disco’ und wir wechseln zu Disco“, erklärt Haraldur Ari Stefánsson. Und die Wahl der richtigen Worte? „Für geheimnisvolle Stücke eignet sich alles, was afrikanisch klingt. Englisch singen wir in den coolen Songs. Leider haben wir nicht sehr viele coole Songs, weil ich nicht so gut Englisch kann“, sagt Unnsteinn. Deshalb habe bei „Eusebio“ Örvar Þóreyjarson Smárason den Text beigesteuert. Der ist eigentlich Kreativkopf der Experimentalpop-Band Múm, die gerne den Nachwuchs fördert: Wie bereits erwähnt, Island ist klein.

Schon vor gut zwei Monaten sollten Retro Stefson das Tempelhofer Flugfeld bespielen, als dort die Modemesse Bread & Butter gastierte. Ein Unwetter sorgte dafür, dass die Veranstaltung abgeblasen wurde und die Band unverrichteter Dinge zurück in ihre WG nach Moabit reisen musste. Der Auftritt auf dem Berlin Festival dürfte also auch eine Art Genugtuung für Retro Stefson sein. Dem Publikum indes wird er zeigen: Das mit den „wenigen coolen Songs“ ist Tiefstapelei. Cool ist an diesen jungen Isländern eine ganze Menge.

KONZERT Flughafen Tempelhof Sa 10.9., 15.30 Uhr

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