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Die Schlange. Der Spitzname passt zu diesem Beton gewordenen Traum der berüchtigten West-Berliner Bauwirtschaft. 1980 zogen die ersten Mieter ein.

©  Kai-Uwe Heinrich

Berliner Häuser (2): Gebirge mit Herzschlag

Die Schlangenbader Straße 12 - 36 in Wilmersdorf ist eine Wohnutopie über der Autobahn.

Es ist ein unglaubliches, 600 Meter langes, leicht gewundenes Gebilde. Der Name Schlange passt zu diesem Gebäude, das sich mit seinen 1064 Wohnungen über die Stadtautobahn stülpt. Erbaut wurde das 46 Meter hohe, terrassenförmig ansteigende Wohngebirge zwischen 1976 und 1980 von den Architekten Georg Heinrichs, Gerhard Krebs und Klaus Krebs, es ist einer der größten durchgängig begehbaren Wohnkomplexe Europas. Staunend steht man vor dem Ding, staunend fährt man durch das Ding hindurch und fragt sich, wie und warum dieser Koloss gebaut wurde. Wie kam es dazu, dass eine Autobahn überbaut wurde, um Wohnungen zu errichten? Die einmaligen politischen Verhältnisse im West-Berlin der siebziger Jahre machten es möglich.

„Schlangenbader Straße – die Wohlfühloase über der Autobahn“ heißt es heute auf der Website der Wohnungsbaugesellschaft Degewo – und das ist nicht ironisch gemeint. Tatsächlich, in dem Hof zwischen dem eigentlichen Wohngebirge und der Randbebauung mit weiteren 694 Wohnungen stehen fast schon alte Bäume. Seit im Jahr 1980 die ersten Mieter einzogen, sind ein paar Jahre vergangen. Vogelgezwitscher ist zu hören, die Fensterrahmen leuchten in der Farbe halbreifer Zitronen. Das Gelb der Fassade ist verblasst und hat nicht nur an der Wetterseite Flecken. Die großvolumigen Betonblumenkästen der Terrassenbrüstungen sehen aus wie steinerne Sarkophage – passenderweise sind viele von ihnen mit pflegeleichten Friedhofgehölzen bepflanzt.

An einem Wochentag im Sommer gegen drei Uhr nachmittags wirkt die Anlage seltsam ausgestorben. Kein Kind, nirgends auf den vielen Spielplätzen, für die strenge Ruhezeiten gelten. Ungefähr 200 Schilder weisen darauf hin. Und niemand geht hier spazieren, alle Bänke sind leer. Der Lastwagen eines Umzugsunternehmens parkt vor einem der vielen Eingänge, Männer tragen Kartons und Möbelstücke ins Haus. Einige Wohnungen sind zurzeit frei. Die größte von ihnen misst 117 Quadratmeter und liegt im 13. Stock. Sie kostet, Aussicht inklusive, 1235,16 Euro im Monat. Man bräuchte allerdings einen Wohnberechtigungsschein.

In den Eingangsbereichen mit den Briefkästen und den öffentlichen Durchgängen liegt der gleiche Noppen-Bodenbelag wie im Flughafen Tegel, typisch für die späten Achtziger, viele westdeutsche Schulen und Krankenhäuser sehen noch ganz ähnlich aus. Türen mit breiten Griffen, Sicherheitsglas mit Drahtgitter und satte, gedeckte Leitfarben – die Schlange ist ein Denkmal ihrer Zeit. Die Durchgänge sind der einzige Ort, an dem ein sanftes Tok-Tok-Tok von den Autos, die durch den Tunnel fahren, zu hören ist. Bewohner nennen dieses Geräusch den Herzschlag des Gebäudes.

Und natürlich findet sich ein älterer Herr, der sagt, er wohne gerne hier, seit 27 Jahren, und nein, von der Autobahn höre er nichts. Und eine tolle Aussicht habe er. Über ganz Berlin. Wer ein Autoleben führt, der kann mit dem Wagen bis fast in seine Wohnung fahren. Und die Autobahn ist nicht weit. Ebenso leicht ließen sich allerdings Legionen ehemaliger Bewohner zitieren, die es furchtbar fanden, in dieser Wohnmaschine zu leben – und deshalb wieder auszogen.

Vor bald 20 Jahren war die Schlange mal ein sozialer Brennpunkt. Die Fehlbelegungsabgabe für Sozialwohnungen hatte dazu geführt, dass viele bessergestellte Mieter den „Wohnpark Wilmersdorf“ (so sollte der Komplex ursprünglich einmal heißen) verließen. Es kam zu einer Verschlechterung des Wohnumfelds. Müll blieb auf den Fluren liegen, Wände wurden immer wieder beschmiert, Jugendliche marodierten durch die Gänge. Eine der Gegenmaßnahmen des Besitzers war es, die teils 600 Meter langen Flure aufzuteilen, die Jugendlichen bekamen eine Teestube. Heute wirkt die Anlage gepflegt. Vermutlich wohnen nicht mehr allzu viele junge Menschen hier.

In der leicht traurig wirkenden Ladenzeile kündigt ein Aushang im Fenster der „Galerie InternetTreff“ einen „Facebook Tag“ an. Die Programmpunkte lauten „Was ist Facebook?“ und „Wie melde ich mich bei Facebook an?“ Fünf Euro soll das kosten. Teenager brauchen so etwas nicht: Drinnen sitzen ältere Damen an noch älteren Computern. Ist aus der Schlange über die Jahre ein großes Altersheim geworden? Neben dem „City-HaarStudio Herren“ unterhalten sich zwei Rentner vor der Sports Bar beim Bier, Lautstärke knapp unter der Gröhlgrenze. In einem Schaukasten wird „Wohnraumanpassung“ angeboten – gemeint ist seniorengerechter Wohnungs-Umbau.

Die gigantische Schlange ist der Beton gewordene Traum der berühmt-berüchtigten West-Berliner Bauwirtschaft. Andererseits, und das ist nicht mehr so leicht zu sehen, waren solche Wohnmaschinen (wie sie von Le Corbusier und anderen Architekten der Moderne als vertikale Dörfer geplant wurden) gebaute Utopien. Die Schlange ist eben auch eine Wohnkathedrale mit Licht und Luft und sanitären Einrichtungen in allen Wohnungen. Wer ohne diese Annehmlichkeiten im dritten Hinterhof gewohnt hatte, wusste das zu schätzen. Heute ist das Ensemble aus Stadtautobahn und Wohnbebauung ein einmaliges Beispiel für das, was einmal möglich war in dieser Stadt. Und als solches eigentlich denkmalwürdig. Wer würde es heute wagen, fast 1800 Sozialwohnungen für 200 Millionen Euro in den märkischen Sand zu setzen? Welche Stadt wäre heute so reich? Das Berlinförderungsgesetz und die einmaligen Bedingungen der eingemauerten Halbstadt machten es damals möglich. Die politischen Entscheidungen für den Bau der Schlange wirken im Rückblick wie eine West-Berliner Baufilz-Mauschelei zwischen Baulöwen und einem Senator, der gleichzeitig Aufsichtsratsvorsitzender einer gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaft war.

So könnte man auf die Idee kommen, West-Berlin habe sich hier sein eigenes Stadtschloss mit Sozialwohnungen gebaut. Über ein Autobahnstück, das eigentlich nirgendwo hinführt: Die A104, der Steglitzer Abzweig, ist nur ein Stummel, ein 2,5 Kilometer kurzes und ehedem 170 Millionen Mark teures Planungsfragment, das in eine ganz normale Wohnstraße mündet.

David Wagner ist Schriftsteller. Im September erscheint sein Buch „Welche Farbe hat Berlin“ im Verbrecher Verlag.

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