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Kultur: Berliner Schwindel - im Theater am Halleschen Ufer

Ein Tanzsolo verlangt vom Choreographen wie vom Tänzer ein Höchstmaß an Kunstfertigkeit. Weil die Augen des Zuschauers nur auf eine Person konzentriert sind, registriert es unbarmherzig jeden Fehler, jede Abweichung vom Thema.

Ein Tanzsolo verlangt vom Choreographen wie vom Tänzer ein Höchstmaß an Kunstfertigkeit. Weil die Augen des Zuschauers nur auf eine Person konzentriert sind, registriert es unbarmherzig jeden Fehler, jede Abweichung vom Thema. Alle Spannung gewinnt sich nur aus dem klugen Umgang dieses Einzelnen mit Zeit und Raum.

In ihrem neuen Stück "Vertige" hat sich Toula Limnaios nun der schwierigsten aller choreographischen Disziplinen gestellt. Mädchenhaft, im roten Kleidchen, steht sie anfangs mit leerem Teller und Serviette und lauscht einem Text von Samuel Beckett. Dann entledigt sich die stumme Kellnerin ihrer Utensilien und krümmt sich in pathetische Posen. Der Schwindel ist ihr Thema, und was sie aus dem Lot bringt, ist offenbar die rasende Beschleunigung der modernen Zeiten. Reizüberflutung nennt man, was der Videokünstler Cyan für die Tänzer/Choreographin zu raschen Bildfolgen zusammengeschnitten hat: ineinander gleitende Aufnahmen menschlicher Augenpartien, rotierende Speisen, Körperteile, Inneneinrichtungen aus den 50er und 60er Jahren, abstrakte geometrische Muster.

Alles kann sein in dieser überdrehten MTV-Welt. Auch die Musik zieht alle verfügbaren Register, von säuselnden Sphärenklängen bis zu harten industriellen Maschinenbeats. Kaum ein Wunder, dass die Tänzerin unter der Wucht der visuellen und akustischen Attacken bald in die Knie geht.

Zunehmend hektischer springt sie.Wohin immer sie zu fliehen sucht, das Licht von Michel Delvigne fängt sie in scharf umrissenen Räumen wieder ein. Kein Ausweg, nirgends. Doch kaum weiß die Choreographin mit diesen beschleunigten Verhältnissen mehr anzufangen als eine dramatische Leidengeschichte zu inszenieren, die über 45 Minuten beträchtlich auf der Stelle tritt. Ihre häufig pantomimischen Gesten mögen der Tänzerin etwas erzählen, dem Zuschauer bleibt deren Sinn und Bedeutung rätselhaft. Toula Limnaios sammelt subjektive Eindrücke rund um ihr Thema und reiht sie ebenso beliebig wie sprunghaft aneinander. Als einziges choreographisches Mittel steht ihr offenbar die Wiederholung zu Gebote. Von Durchführung oder Umkehrung keine Spur. So entwickelt sich kaum eine Spannung, von choreographischen Bögen gar nicht zu reden. Was immer in "Vertige" Revue passiert, könnte so oder eben auch anders sein. Toula Limnaios formuliert mit hohem Anspruch Behauptungen, die sich nirgends einlösen. Erschöpft und ratlos verläßt auch der Zuschauer das Theater am Halleschen Ufer.

Norbert Servos

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