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Lebensadern: Berliner Straße: Da muss Pankow durch

Acht Berliner Straßen gibt es in Berlin, sie ist die älteste. Die nördliche Verlängerung der Schönhauser Allee ist Pankows Tor zur Welt, Berlins Gasse ins Grüne. Immer noch sieht es hier aus wie nach der Wende.

Eine Berliner Straße. Aus der Biowurstbude dudelt Musik, die von der vorbeiratternden Straßenbahn unterbrochen wird. Eine Frau schiebt ihren Kinderwagen in ein Geschäft, während ein Mann im Laufen Zeitung liest, in der anderen Hand einen Kaffee, und an der Ampel aufsieht. Rot; er hastet rüber. 9 Uhr an der Schönhauser Allee, die Stadt ist wach.

Die Berliner Straße. Im Bistro die gleiche Musik, draußen die gleiche Straßenbahn. Am Tresen sitzen zwei Männer, einer mit einem Bier und einem Kaffee, der andere mit Bier und Zigarette. Eine Frau schiebt ihren Kinderwagen über Geröll, ein Mann wartet an der Ampel auf Grün. 9 Uhr auf der nördlichen Verlängerung der Schönhauser Allee, Pankow nickert noch.

„Den Dreck muss man sich jetzt mal wegdenken“, sagt Jens-Holger Kirchner und schließt die Augen hinter seinen Brillengläsern. Der Baustadtrat steht unter der S-Bahnbrücke am Bahnhof Pankow, auf der Mitte der zwei Kilometer langen Berliner Straße, die seit jeher Pankow mit Berlin verbindet, und sieht jetzt einen Boulevard vor sich. Eine Flaniermeile, auf der Menschen Besorgungen machen, eine Kleinigkeit essen gehen und abends bei einem Konzert applaudieren. So soll die älteste von den acht Berliner Straßen, die es in Berlin gibt, in ein paar Jahren aussehen. Als Kirchner die Augen wieder aufschlägt, sieht er Leute mit Bloß-weg- hier-Blicken über kaputte Bürgersteige zum Bahnhof stolpern. Die Berliner Straße ist mal wieder Baustelle, zwei Jahre noch. Kirchner, der dafür verantwortlich ist, zuckt mit den Schultern: „Da müssen wir durch.“

Die Pankower mussten hier immer durch. Die Straße war für sie stets das Tor zur Welt – die klopfte zunächst in Form eines germanischen Lektators an, der sich im 13. Jahrhundert hier niederließ und um die Entwicklung des Dorfes kümmerte. König Friedrich I. von Preußen ließ um 1700 den Sandweg vom Schloss Schönhausen in die weite Stadt befestigen und mit Linden bepflanzen; später wurde mit einkassiertem Chausseegeld Gewinn gemacht. Berlins Ausflügler liebten die Gasse ins Grüne. Mit eigenem Gassenhauer: „Komm, Karlineken, komm, Karlineken, komm, wir woll’n nach Pankow jehn, da is et wunderschön“, trällerte es Ende des 19. Jahrhunderts von den Pferdewagen, die über das Kopfsteinpflaster tackerten. Schon damals beklagten sich die Anwohner über den Zustand der Straße.

„Dreieinhalb Jahre Sperrung, um eine Fahrbahn zu erneuern – in der Zeit bauen sie in China ganze Städte.“ So reden die Pankower, die auch im Meckern längst Berliner sind. Aber wer will es ihnen verdenken, so lange ein provisorischer Fußgängerweg direkt an einem Doppelbriefkasten endet? In Pankow wird seit 1989 permanent die Erde aufgerissen, um endlich den richtigen Verkehrsanschluss zu finden und ein neues Prenzlauer Berg im Grünen zu erschaffen. Nur: Während Konkurrenten wie Weißensee und Köpenick fertig sind und vor sich hin boomen, sieht am Flüsschen Panke vieles so aus wie kurz nach der Wende: Auf der Berliner Straße reihen sich Dönerbuden an Automärkte an Nagelstudio-Friseure („Super-Cool, Super-Trend, Super-Preis“) an Trödler, die Kinderkaufmannsläden mit DDR-Spielgeld verhökern – dazwischen: alte Fassaden, neuer Putz, verwaiste Lokale, mal ein Atelier, Bauzäune. Morgens und abends stehen hier alle im Stau, auch Bus- und Bahnfahrer, und schauen den nach Tegel donnernden Flugzeugen nach. „Es herrscht Stillstand“, sagt Bernd Zepter, der an der Berliner Straße seit 40 Jahren als Autoschlosser arbeitet. Und doch glaubt auch er: „Irgendwann geht’s los.“ Manchmal wirkt Pankow wie ein ewiges Versprechen.

Für Silvia Sebastian ist es längst in Erfüllung gegangen. Die 31-jährige Pädagogin steht in der neuen Turnhalle der von ihr geleiteten Privatschule der „Pankower Früchtchen“, tippelt über den hellem Parkettboden und sagt: „Das ist unser Baby.“ Das Baby hat einen guten Ausblick, denn es liegt direkt unterm Dach der ehemaligen Zigarettenfabrik Pankow. 500 Kinder werden hier bald spielen, manche aus Hartz-IV- Haushalten, in denen die Großeltern für das Schulgeld aufkommen, viele aus den alten neuen Bürgerhäusern an den Pankower Parks. Geboten wird Frontalunterricht wie zu DDR-Zeiten und ein Hort mit Höhlen-, Puppen- und Bastelzimmern. Die meisten Lehrer haben den Sozialismus als Kinder erlebt und können vielleicht deshalb ganz gut improvisieren. Wegen der Baustelle vor der Tür zog sich im letzten Halbjahr ein Projekt durch alle Schulstunden: „Mein Bezirk Pankow“. Aus Pappkartons bauten die Kinder Städte. „Hier zu arbeiten ist wie Adventure-Urlaub“, freut sich Silvia Sebastian. Ihr Lachen wird nur überdröhnt von einem Pressluftbohrer aus dem Gebäude nebenan. Dort werden Lofts in die alten Fabrikhallen gezimmert, käufliches Eigentum für 3200 Euro pro Quadratmeter. Geht’s schon lange los in Pankow?

Inzwischen gibt es 16 Privatschulen im Bezirk, eine sogar im alten Gebäude der Post, deren herrschaftliches Amt seit 1919 vor einer Freitreppe an der Berliner Straße thront. Ganz früher wurden hier Briefe auf Droschken verladen, in einem anderen Früher dann standen die Menschen an nummerierten Telefonzellen an, um sich mal mit ihrer Verwandtschaft an der Ostsee oder im Erzgebirge verbinden zu lassen. Heute kann man unter greller Postsonne Bankgeschäfte tätigen. Die Berliner Straße hat viele Institutionen, aber Pankow geht nicht gerade pfleglich mit ihnen um. Genau deshalb trägt Pankows Lebensader eine vernarbte Haut.

Die Berliner Straße beginnt am einstigen Dorfanger noch ganz charmant. An Pankows Kirche quietschen die seit 1900 verkehrenden Straßenbahnen um die Ecke, die heute eine unvollendete U-Bahn-Verlängerung ersetzen; vorbei an einer fast 200 Jahre alten Apotheke und einem Wandgemälde, welches das traditionelle Pankower Markttreiben zeigt. Auf einer Freifläche, gerissen von den letzten Gefechten des Zweiten Weltkriegs, plätschert im Sommer ein Tröpfelbrunnen. Zu DDR-Zeiten standen hier bevorzugt auch die Mantelmänner, die bei Staatsbesuchen auffällig unauffällig „Neues Deutschland“ lasen und ganz nebenbei darauf achteten, dass an der Protokollstrecke keine vorlauten Jungs zu wild „Gorbi, Gorbi“ riefen.

Auf dem Weg hinab zum Bahnhof Pankow kämpfen ein paar Geschäfte ums Überleben, darunter die legendäre „Absatzbar“. Hier konnten Bürger ab 1968 ihre Absätze erneuern lassen; das dauerte nur eine Viertelstunde, in der Zwischenzeit wurden Getränke auf Barhockern gereicht. An manchen Tagen kamen 800 Leute, heute können’s mal nur 18 sein. Die Absätze dauern mindestens einen Tag, erzählt Besitzer Dieter Kobin, „die Sohlen aus China lassen sich nicht mehr so einfach ein- und ausdübeln“.

Immerhin am U- und S-Bahnhof trubelt das Leben. Umsteiger schnappen nach Imbissen, Schüler sammeln Unterschriften, Studenten schlendern in die Bibliothek. Auch sie ist in einem Gebäude der Zigarettenfabrik untergebracht: dem ehemaligen Jüdischen Waisenhaus, das der Pankower Fabrikant Josef Garbáty errichten ließ. Hier lebten, lernten und beteten zeitweise bis zu 100 Kinder. Die Zöglinge wären nach der Kristallnacht fast von einem Mob gelyncht worden, viele wurden deportiert und starben. Heute erinnert eine Gedenktafel an die 579 ermordeten Juden aus Pankow. „Die Forschungen ergeben immer neue Namen“, erzählt Verwalter Michael Voß. „Wir werden bald eine Zusatztafel aufstellen.“ Nach dem Krieg residierte hier der Deutsche Sportausschuss, in der DDR die Botschaften von Polen und Kuba.

Nach dem Umbruch wucherte der Eingang zu, auf dem weitläufigen Gelände gab es Mitte der neunziger Jahre deftige Partys, bei denen sich Frauen an provisorischen Schminktischen zurechtmachten, während Männer mit nacktem Oberkörper Wände aufstemmten, um den Weg freizusprengen in einen alten Fabriksaal, in dem schon eine Band auf die ekstatische Masse wartete. Die Spuren, die die Zeitläufte hinterlassen haben, sind heute am ehemaligen Betsaal des Waisenhauses zu erkennen – oben, an der Decke. Davidsterne leuchten dort, teilweise übermalt von den Nazis, teilweise übersät von Löchern, an denen realsozialistische Zwischendecken festgeschraubt worden waren. An dieser Decke geht Pankow sensibel mit seiner Geschichte um, zeigt sie, wie sie ist.

Pankow kann durchaus feine Gefühle entwickeln. Als die Republikaner auf dem alten Fabrikgelände ihre Zentrale errichteten, wurden sie vom Bürgerprotest wieder vertrieben. Der Platz vor dem Bahnhof ist nach Josef Garbáty benannt. Mit der Berliner Straße sollte das auch passieren, der Bezirksverordnetenversammlung kam 1999 diese Idee. Ein mehrmonatiges Kopfschütteln der Pankower brachte den Beschluss zu Fall.

Die S-Bahn teilt Pankow wie ein Fluss, und damit die Berliner Straße. Hinterm Horizont geht’s zwar weiter, aber nur in Form einer Durchfahrts-Trasse zur Innenstadt. Auf der südlichen Berliner Straße gibt es eine Menge blinde Schaufenster und aufgeblasene Hütten. In einer gekühlten Halle namens „Gletscher“ steht eine etwas füllige Frau auf einer überdimensionalen Teppichrolle, abschüssig und motorbetrieben, und übt Skifahren. „Manchmal werden hier Hochzeiten gefeiert“, berichtet der Skilehrer und wundert sich darüber nicht.

In der nächsten Hütte wartet ein Discounter auf Rentnerinnen und Teenager, früher trafen sich an dieser Stelle die Generationen im Kino Tivoli. Die Pankower Brüder Skladanowsky hatten das Bioscop erfunden, mit dem sie 1895 erstmals kurze Filmsequenzen projizierten. Das Publikum bestaunte Tanz- und Turnszenen sowie Jonglagen. Das Tivoli wurde Deutschlands erstes Kino.

Die Marktwirtschaft überstand das Tivoli nicht, nur ein Mosaik auf dem Bürgersteig erzählt noch davon. Auf der anderen Straßenseite sieht man an einer Fassade den Schriftzug des geschlossenen „Tanzcafé Binz“, weiter südlich das leere „Tanzcafé Esplanade“ und den ehemaligen „Thule-Club“. Hinterm U-Bahnhof Vinetastraße bricht sich das Viadukt für die Hohen Gelben in der Mitte der Straße Bahn. Unten beschließen eine Tankstelle, alte Neubauten (in der DDR Arbeiterschließfächer genannt), ein Sexshop („Mittwoch ist Videotag“) und ein Flohmarkt Pankows Tor zur Welt. Dann beginnt die Schönhauser Allee, eine Berliner Straße.

Die Berliner Straße. Im Bistro dudelt Musik, zwei Männer sitzen am Tresen. Pankow nickert. Der eine Mann bestellt ein Bier nach, der andere sagt: „So. Naja. Jut.“

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