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Um die eigene Achse. In Anne Teresa De Keersmaekers "Vortex Temporum" bewegen sich sechs Tänzer spiralförmig um sich selbst und umeinander.

© Anne Van Aerschot

Berliner Volksbühne: Im Strudel der Gegenwart

Erstes Gastspiel nach dem Aus für Chris Dercon: das Tanzstück „Vortex Temporum“ von Anne Teresa de Keersmaeker an der Berlin Volksbühne.

Von Sandra Luzina

Die Stimmung am Rosa-Luxemburg-Platz ist wie ausgewechselt. In der Volksbühne zeigt Anne Teresa De Keersmaeker ihr Tanzstück „Vortex Temporum“ – es ist das erste große Gastspiel, seitdem bekannt wurde, dass Intendant Chris Dercon nach nur sieben Monaten Amtszeit aufhört, sein Vertrag ruht seit dem 12. April. Das Theater ist bei dieser Premiere am Freitagabend zwar nur zu zwei Dritteln besetzt – selbst eine weltberühmte Choreografin wie De Keersmaeker spielt an der Volksbühne nicht vor ausverkauftem Haus. Doch wenn nach fast anderthalb Stunden der Applaus aufbrandet, gewinnt man den Eindruck, dass die Anspannung in der nun schon so lange vom Kulturkampf gebeutelten Spielstätte sich allmählich löst.

Der Anfang vom Ende einer unseligen Geschichte? Ein Hauch Zukunft für die Post-Castorf- und nun auch die Post-Dercon-Ära? Selbst der Titel von De Keersmaekers Stück gewinnt etwas Programmatisches: „Vortex Temporum“ bedeutet so viel wie Zeitstrudel oder Zeitwirbel. Es stammt aus dem Jahr 2013 und war in Berlin erstmals 2014 zu sehen, im Rahmen des Festivals „Tanz im August“. Die Tänzer der Compagnie Rosas treffen hier auf die exzellenten Musiker des auf Neue Musik spezialisierten Ensembles Ictus.

Anne Teresa De Keersmaeker ist bekannt für ihre hohe Musikalität. Doch sie räumt ein, dass es eine besondere Herausforderung darstelle, eine Choreografie zu zeitgenössischer Musik zu entwerfen. Mit „Vortex Temporum“ von Gérard Grisey hat sie ein Schlüsselwerk der Spektralmusik ausgewählt: Der verstorbene französische Komponist hat darin die Zeiten der Menschen, Wale und Vögel und ihre jeweils entsprechenden Tonspektren durcheinandergewirbelt. Die Komposition für Flöte, Klarinette, Klavier, Violine, Viola, Cello und Klavier lädt nicht unbedingt zum Tanzen ein, so der erste Eindruck – die Tänzer können nicht einmal einem klaren Puls folgen. Zunächst überlässt die Choreografin denn auch den sechs Musikern die Bühne. Sie sitzen im Halbkreis auf Stühlen, eine klassische Konzertsituation.

Lebende Statue. In „Work/Travail/Arbeid“ wird die Bühne zum Ausstellungsraum - die Arbeit basiert auf dem Tanzstück "Vortex Temporum".
Lebende Statue. In „Work/Travail/Arbeid“ wird die Bühne zum Ausstellungsraum - die Arbeit basiert auf dem Tanzstück "Vortex Temporum".

© Anne Van Aerschot

Der Auftritt der Tänzer, vier Männer und zwei Frauen, beginnt dann in aller Stille. Später stößt Carlos Garbain dazu, ein langer Schlaks und sehr eigenwilliger Performer. De Keersmaeker entwickelte zunächst eine elementare Phrase, eine simple Bewegungssequenz, die sich an der Wirbelsäule orientiert. Die Tänzer schrauben sich mit dem Oberkörper in die Diagonale, rollen Wirbel für Wirbel nach unten oder kippen seitlich oder rückwärts aus der vertikalen Achse. Aus dem Ein- und Ausdrehen, dem Falten und Entfalten entwickelt die Choreografin die für sie so charakteristischen Spiralmuster, die in immer neuen Ausformungen zu sehen sind.

Selbst das Klavier dreht sich schon mal im Kreis

Auf dem Boden wurden mit Kreide große Kreise gezeichnet, die sich überschneiden und ein komplexes geometrisches Muster bilden. Es ist, als ob die Tänzer tatsächlich von einem Zeitstrudel erfasst und fortgerissen würden: Sie laufen auf kreisförmigen Bahnen, auch gegen den Uhrzeigersinn – selbst das Klavier dreht sich schon mal im Kreis. Die Zeit dehnt sich aus und verdichtet sich, wie auch die Kreise sich vergrößern und wieder zusammenziehen.

Seien es die Laufbahnen von Planeten oder Naturphänomene: „Vortex Temporum“ weckt vielfältige Assoziationen. Die Tänzer schwärmen aus, ballen sich zusammen, zerstreuen sich wieder im Raum. Auch wenn jeder auf seiner Umlaufbahn kurvt und seine individuellen Spiralmuster formt, folgen sie doch alle der gleichen choreografischen DNA. Der Tanz entwickelt einen hypnotischen Sog.

Energieschübe, das kann die Volksbühne jetzt gebrauchen

Musik nicht mit Bewegungen zu verstellen, sondern musikalische Strukturen zu visualisieren, darin ist Anne Teresa De Keersmaeker ohnehin eine Meisterin. Die Tänzer werden am Ende von Dunkelheit umfangen. Doch das kontrapunktische Beziehungsgeflecht, das sie im Lauf des Abends entwickelt haben, bleibt überaus erhellend. Auch als Zuschauer hat man das Gefühl, von einem Energiestrudel erfasst zu werden – ein Erlebnis, das man den Besuchern der Volksbühne wieder öfter wünscht.

Der Eindruck eines Energieschubs könnte sich diese Woche in der Volksbühne gleich noch einmal einstellen, bei De Keersmaekers „Work/Travail/Arbeid“ ab 26. April. Ausgangspunkt ist die Frage: Kann man eine Choreografie in Form einer Ausstellung aufführen? Dabei greift die Choreografin das Material aus „Vortex Temporum“ wieder auf und macht die Bühne zum Ausstellungsraum. Die Zuschauer können die Tänzer und Musiker wie Skulpturen aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten. „Work/Travail/Arbeid“ wurde 2015 vom Zentrum für zeitgenössische Kunst Wiels in Brüssel initiiert und bereits an der Tate Modern in London, am Centre Pompidou in Paris und am MoMA in New York gezeigt. Die Volksbühne ist aber kein Museum, kein white cube. Mal sehen, welche Früchte das hybride Werk am Rosa-Luxemburg-Platz tragen wird.

Work/Travail/Arbeid“, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, 26. und 27 .4., 18 – 22 Uhr, 28. und 29.4., 14 – 22 Uhr

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