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Grundlage des Glaubens. Ludovico Mazzolinos „Beschneidung Christi“ von 1526, Kunsthistorisches Museum Wien.

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Beschneidungs-Debatte: "Erlaubt ist, was nicht schadet"

Kindeswohl, Elternsorge, Religionsfreiheit: Die Familienrechtlerin Susann Bräcklein vermutet in der Debatte um die Beschneidung, dass es in den nächsten Jahren mehr Ersatzrituale und weniger Beschneidungen geben wird.

Von Caroline Fetscher

Frau Bräcklein, viele wünschen sich in der aufgeheizten Debatte um die Beschneidung eine friedensstiftende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Kann es die geben?

Im jetzt diskutierten Fall nicht. Das Landgericht Köln hat den Arzt freigesprochen, der den Jungen beschnitten hatte, dieser Einzelfall ist abgeschlossen. Dabei wurde zwar eine rechtswidrige, aber keine schuldhafte Körperverletzung festgestellt, weil der Arzt annahm, sein Handeln sei erlaubt gewesen – wo kein Kläger, da keine Klage. Das Verfassungsgericht könnte also erst in einem neuen, ähnlichen Fall entscheiden, wie ihn die Religionsverbände eventuell lancieren wollen.

Zu welchem Ergebnis könnte das Verfassungsgericht kommen?

Es geht vor allem um zwei Grundrechte, die im Konflikt miteinander stehen: das Elternrecht und das Grundrecht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit. Liegen beide Rechtsgüter auf der Waage, muss entschieden werden, welches schwerer wiegt. Die Grundrechtskollisionen dieser Art sind auch nichts Neues. Das sehen wir an bislang diskutierten körperlichen Eingriffen an Kindern: Ohrlochstechen, Piercings, Schönheitsoperationen wie Nasenkorrektur oder Ohrenanlegen, Impfungen, Zahnspangen und so fort. All das berührt Standardfragen des Familienrechts. Hier kommt es gar nicht so sehr auf die Motivation des Eingriffs oder die Frage der Religionsfreiheit an.

Worauf kommt es grundgesetzlich vor allem an? Auf das Kindeswohl?

Ja. Das Kindeswohl ist zwar ein unbestimmter Rechtsbegriff. Es ist nirgendwo klar definiert und wird nur negativ geprüft: Grundsätzlich ist erlaubt, was nicht evident schadet.

Also hört erst bei Körperverletzung das Elternrecht auf?

Sie unterstellen, dass es sich bei der Beschneidung von Jungen um einen rechtswidrigen Eingriff handelt. Doch gerade bei dieser Frage wird ja so erbittert gestritten. Wie wir etwa am Beispiel der Korrektur von Segelohren sehen, sind nicht alle körperlichen Eingriffe an Kindern rechtswidrig. Der verfassungsrechtlich geschützte Spielraum endet erst beim Missbrauch der elterlichen Sorge.

Im Video-Interview berichtet Dr. med. Ismail Tuncay über die Bedeutung einer Beschneidung im Islam, möglichen Komplikationen und was ein Verbot aus seiner Sicht bringen würde:

Was markiert also die Grenze des Elternrechts?

Jedenfalls nicht die medizinische Indikation. Ich bin der Auffassung, die Grenze lässt sich aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Kindes ableiten. Dieses Grundrecht richtet sich an Artikel 1 der Verfassung aus: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Dazu hat die Rechtsprechung die sogenannte Objekt-Formel entwickelt: Niemand darf zum Objekt herabgewürdigt werden. Dieses Grundprinzip setzt auch dem Elternrecht Grenzen.

Darüber ließe sich allerdings weiter streiten.

Das stimmt. Die einen würden sagen: „Das Kind muss selbst entscheiden dürfen“, die anderen: „Die Beschneidung von Jungen ist kein auf Abwertung gerichteter Akt wie etwa die weibliche Beschneidung.“ Die Mädchen-Beschneidung ist der Extremfall, der die Grenzziehung verdeutlicht. Das Oberlandesgericht Dresden hat 2003 einer Mutter teilweise das Sorgerecht entzogen, weil sie ihre fünfjährige Tochter in Afrika „pharaonisch“, also in der am meisten verstümmelnden Form, beschneiden lassen wolle. Im Urteil hieß es, das Mädchen würde unter Missachtung ihres religiösen und personalen Selbstbestimmungsrechts zum bloßen Objekt erniedrigt, die Integrität der Person beschädigt.

Die Familienrechtlerin Susann Bräcklein arbeitete von 2006 bis 2009 am Bundesverfassungsgericht. Zur Zeit berät sie das Verfassungsgericht von Georgien.

© privat

Für die Beschneidung von Jungen gilt die Objekt-Formel nicht?

Eher nicht, solange der Eingriff schmerzfrei und professionell geschieht. Mädchenbeschneidung ist als Asylgrund anerkannt, weil sie die Zugehörigkeit zu einer Gruppe mit geringem Sozialstatus herstellt. Mädchen gelten ohne Beschneidung als „unrein“, das gilt für unbeschnittene Jungen so nicht. Man könnte sagen: Für Mädchen beginnt mit dieser brutalen Praxis ein untergeordnetes Dasein, Jungen erhalten durch einen vergleichsweise kleinen Schnitt ein Upgrade ihrer Mannwerdung. Das ist weitaus weniger beeinträchtigend für die Entwicklung der Persönlichkeit.

Gegen die Unverletzlichkeit des Körpers wird in beiden Fällen verstoßen

Ich würde in dem Kontext eher von Integrität des Körpers als von der Unverletzlichkeit des Körpers sprechen. Ja, der Körper wird in beiden Fällen zweifelsfrei verletzt. Das heißt aber nicht zugleich, dass eine Integritätsverletzung vorliegt. Integrität bedeutet mehr, ihr Fokus liegt auf der Persönlichkeitsentwicklung. Für Jungen hat der Eingriff nicht die gleiche schicksalhafte Bedeutung.

Lässt sich mit dieser juristischen Argumentation die Debatte beenden?

Nein. Das Urteil des Landgerichts Köln hat gerade bewirkt, dass eine gesellschaftliche Diskussion in Gang gekommen ist, der sich jetzt auch die Vertreter der Religionen stellen müssen. Das bringt viele medizinische, psychologische und juristische Aspekte ans Licht, die Debatte wirkt aufklärend, religiöse Eltern können sich damit auseinandersetzen. Sicher würde ich mir wünschen, dass Religionen ohne körperliche Eingriffe an Kindern auskämen, doch der Weg dahin ist ein Prozess, kein einzelner Akt. Die gegenläufigen Positionen werden auch im Bundestag noch zu heftigen Debatten führen.

Wäre ein Beschneidungsverbot verfassungsrechtlich möglich?

Ich denke, ja. Der Gesetzgeber könnte auf Bundesebene zum selben Abwägungsergebnis kommen wie das Kölner Landgericht – und der körperlichen Unversehrtheit des Kindes den Vorrang vor dem Elternrecht einräumen. Im Streitfall würde das Verfassungsgericht diesen Eingriff in Religionsfreiheit und Elternrecht vermutlich als verhältnismäßig bestätigen. Das lässt sich nach der Kopftuch-Entscheidung 2003 und der Kruzifix-Entscheidung 1997 vermuten, in denen das Verfassungsgericht den Gesetzgeber zur Lösung der Konflikte aufgefordert hatte.

Video - Wir haben Berliner zum Beschneidungsurteil befragt:

Wo steht das Land auf dem Weg zu mehr Kinderrechten?

Wir beobachten eine starke Aufwertung sowohl des Selbstbestimmungsrechts der Kinder als auch des Schutzes ihrer körperlichen Integrität. Bestes Beispiel sind die geschlechtsangleichenden Operationen sogenannter intersexueller Kinder, die bei der Geburt beide Geschlechtsmerkmale vorweisen. Seit den 1970er Jahren wurden sie oft ohne jegliche medizinische Indikation umoperiert.

Was waren die Probleme dieser Kinder?

Häufig wurden die Kinder nicht über den Umfang der Operationen aufgeklärt. Sie verstanden nicht, was mit ihnen geschah, bei unzähligen Arztbesuchen und traumatischen Operationen. Viele begingen später Selbstmord ...

... weil sie in eine Identität gezwungen wurden?

Erst in jüngster Zeit ist hier größere Sensibilität entwickelt worden. Eltern glaubten, dass man ohne eindeutige Zuordnung – männlich oder weiblich – kein richtiger Mensch werden könne. Heute wissen wir es etwas besser. Dazu gab es am selben Landgericht Köln 2009 ein wichtiges Urteil: Einer Intersexuellen wurden 100 000 Euro Schmerzensgeld gegen einen Arzt zugesprochen, der ungefragt anlässlich einer Blinddarmoperation Geschlechtsorgane entfernt hatte.

Wie wird die Debatte jetzt weitergehen?

Wahrscheinlich entwickelt sich in den kommenden Jahren ein neuer gesellschaftlicher Blick auf diese Fragen, und vermutlich wird es mehr Ersatzrituale und weniger Kindesbeschneidungen geben. Im Augenblick ist die Frage aber affektiv stark besetzt, der Prozess der Aufklärung fängt erst an.

– Das Gespräch führte Caroline Fetscher.

Susann Bräcklein arbeitete von 2006 bis 2009 am Bundesverfassungsgericht. Bis 2002 war sie bei der SPD für Rechtspolitik zuständig. Zur Zeit berät sie das georgische Verfassungsgericht.

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