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Gehobene Unterhaltung. In den Straßen von Neapel, dem Schauplatz der Ferrante-Romane.

© AFP

Bestsellerautorin Elena Ferrante: Enttarnung ist reiner Sensationsjournalismus

Enthüllungsjournalist Gatti hat Ferrante nicht nur aus der Anonymität geholt, sondern auch ihre Privatsphäre verletzt. Einige Informationen hat er illegal beschafft.

Von Gregor Dotzauer

Jedes Unbehagen über die Enttarnung der italienischen Bestsellerautorin Elena Ferrante muss mit einer Selbstbefragung beginnen. Kann man sich wirklich über den sensationslüsternen, von keinerlei literarischem Fingerspitzengefühl geprägten Bericht des Enthüllungsjournalisten Claudio Gatti empören, wenn man gleichzeitig zugeben muss, dass sich jedes Feuilleton der Welt danach die Finger geleckt hätte? Heuchelei ist immerhin eine Gefahr. Aber selbst sie käme nicht umhin, nüchtern festzustellen, dass die „FAZ“, die den Text hierzulande druckte, mit zum Teil illegal beschafften Informationen aufwartete.

Der sprunghafte Anstieg der Überweisungen, die Ferrantes römischer Verlag Edizioni o/e an Anita Raja leistete, die zuvor nur als Übersetzerin aufgetreten war, ist ein entscheidendes Indiz der Beweisführung. Die „interne Quelle“, die für Gatti die Kontoauszüge durchforstete, muss sich wahrscheinlich demnächst einen neuen Job suchen. Mindestens degoutant sind die Hinweise auf Rajas Immobilienbesitz: Schließlich hat sie nicht mithilfe eines Schweizer Nummernkontos Steuern hinterzogen, sie hat die ihr zustehenden Honorare investiert.

Was Gatti hier tut, ist etwas viel Schlimmeres, als Elena Ferrante aus der Anonymität zu holen: Er verletzt ihre Privatsphäre. Wer Ersteres noch hinnehmen mag, muss sich wenigstens gegen Letzteres wenden. Das ist die unmittelbar moralische Dimension des Falles. Sie allein führt aber nicht weiter. Viel interessanter ist, welche Art von Neugier mit dem Coup überhaupt bedient wird. Man muss schon sehr sentimental veranlagt sein, um zu behaupten, dass Rajas Pseudonym das Salz in der Suppe war. Die Enttarnung nimmt dem Lektüreerlebnis ihres Romanzyklus „Meine geniale Freundin“ nichts weg, sie fügt ihm allerdings auch nichts Entscheidendes hinzu.

Grundsätzlich existiert das Bedürfnis, Werke der Kunst bestimmten Personen zuordnen zu können

Aufschlussreich ist insbesondere der Bezug zu Christa Wolfs Roman „Nachdenken über Christa T.“, den Raja wie viele andere Wolf-Bücher ins Italienische übersetzte. Eine solche Fährtenlese fällt unter Einflussforschung und ist deshalb von einem Interesse, den das Werk selbst nicht preisgibt. Um es mit Bill Gates zu sagen: Der Content ist und bleibt König. Doch er ist nichts ohne den Kontext.

Dazu gehört auch, dass Ferrantes Werk als das einer einzelnen Autorin (eventuell unter Mithilfe des Ehemannes) identifiziert wurde. Es stammt, wie zuvor bisweilen gemutmaßt wurde, eben nicht von einem Kollektiv, das wie bei einer TV-Serie Figuren entwickelt, Stoffe plottet und die schreiberische Umsetzung braven Handwerkern überlässt. Es kommt aus einer Hand mit durchaus literarischen Ambitionen, die etwas geschaffen hat, das dennoch als Produkt für ein breites Publikum funktioniert. Für das Verständnis der Romane mag das eine untergeordnete Rolle spielen, für ihre Einordnung ist es, wie jeder an sich selbst überprüfen kann, nicht gleichgültig. Grundsätzlich existiert nun einmal das Bedürfnis, Werke der Kunst bestimmten Personen zuordnen zu können – von der neu zugeordneten Bach-Komposition bis zum pornografischen Erzählfragment im Nachlass des sonst so feinsinnigen wie pathetischen Dichters Rudolf Borchardt, den seine Nachfahren nicht gedruckt sehen wollen.

Jenseits des Starkultes, der um die nicht anonymen, aber doch entzugsfreudigen Schriftsteller Michel Houellebecq oder Christian Kracht betrieben wird, hat es, ohne einem plumpen Biografismus zu verfallen, oft etwas Erhellendes, Person und Werk miteinander ins Verhältnis zu setzen, und zwar für jeden einzeln und aufs Neue. Solange noch hinter der abstraktesten Formen von Literatur Menschen aus Fleisch und Blut stehen und nicht Computerprogramme, liegt darin sogar ein Moment des Vertrauens in die Autorität des Autors, ja in die Bedeutung von Literatur im Allgemeinen. Wahrscheinlich wächst der Wunsch nach der Sichtbarkeit des Autors sogar, je weiter Meinungsbekundungen in sozialen Medien sich hinter Pseudonymen verstecken.

Was ist ein Autor?, fragte einst Michel Foucault

Der Witz ist nur, dass sich all die philosophischen Fragen, die sich an den Fall Ferrante knüpfen, an einem denkbar ungeeigneten Gegenstand austoben: einem der gehobenen Unterhaltung. Wie lächerlich war es, als Claudio Gatti die Motive für Anita Rajas Rückzug in die Anonymität mit dem Einfluss poststrukturalistischer Theoreme erklären wollte. Er bezieht sich auf Michel Foucaults legendären Vortrag „Was ist ein Autor?“ von 1969, in dem dieser seine provokante Formulierung vom „Ende des Menschen“ auf die Literatur anwendet.

Es geht dabei, wie in Roland Barthes’ ebenso oft missverstandenem Essay über den „Tod des Autors“ (1967) nicht darum, den Schriftsteller für überflüssig zu erklären, sondern um einen fundamentalen Perspektivwechsel. Das aus sich selbst schöpfende, über sein Werk herrschende romantische Genie wird hier endgültig einer kühlen Autorfunktion geopfert, der sich zwar nach wie vor die Texte zuschreiben lassen, aber nur im Wogen von Diskursfeldern und historischen Formationen ihre Stimme erhebt. Man kann Ferrantes neapolitanische Abenteuer natürlich auch mit Foucault in ihrer kontingenten Gestalt lesen. Für das anfängliche Schutzbedürfnis der Ex-Bibliothekarin, die sich schreibend in Ruhe ausprobieren wollte, sind das allzu schwere Geschütze.

Elena Ferrante kann nun nicht mehr unschuldig mit biografischen Details spielen

Allerdings markiert der poststrukturalistisch entthronte Autor nur den Endpunkt weniger komplizierter Theoreme, die Ferrante eher für sich in Anspruch nehmen könnte. Es handelt sich um die Weigerung, auf die Frage „Was will uns der Autor sagen?“ eine eindeutige Antwort zu geben. Im New Criticism firmiert sie unter dem Begriff der intentional fallacy, des Fehlschlusses, der von der Absicht eines Autors auf die autonomen Sinneffekte eines Textes schließt. Und natürlich ist es Ferrantes gutes Recht, sich gegen den biografischen Irrtum zu verwahren, der Autor und Protagonist umstandslos in eins setzt.

Die Erfahrung lehrt jedoch, dass autobiografische Impulse und fiktionales Schreiben oft eng zusammenhängen – es gehen nur die wenigsten Autoren damit so bewusst und distanziert um wie J.M. Coetzee oder Imre Kertész, der das eigene Leben zur Beglaubigung seiner Literatur einsetzen musste und sich dennoch nur bis zu einem gewissen Grad in die Karten sehen ließ. Die Unschuld des Spiels mit biografischen Details ist für Elena Ferrante nun vorbei. Und obwohl es vermutlich nur eine Frage der Zeit war, bis ihre wahre Identität aufgeflogen wäre: Diese Enttarnung hat sie nicht verdient.

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