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Beth Ditto: „Ich will nicht mit leerem Magen aufwachen“

Sie ist in den gottesfürchtigen Südstaaten aufgewachsen – in einem Trailerpark. Im Sonntagsinterview des Tagesspiegels erzählt Beth Ditto vom Haus ihrer Mutter, irrationalen Ängsten, einer männerhassenden Tante und den abgelegten Kleidern von Karl Lagerfeld.

Eine Hotelsuite in London, nahe der Liverpool Street Station. Beth Ditto – Porzellanhaut, krasses schwarzes Augen-Make-up – springt zur Begrüßung vom Sofa auf und wirbelt in einem kurzen Fledermaus-Gewand umher. Als sie sich wieder setzt, sieht man den verstärkten Teil ihrer Strumpfhose.

Mrs. Ditto, haben Sie 2010 genug Geld verdient, damit Ihre Mutter nicht mehr arbeiten muss?
Leider nein.

Ihr Lied „Heavy Cross“ ist nach zwei Jahren immer noch in den Hitparaden, Sie geben ein ausverkauftes Konzert nach dem anderen und sind inzwischen so etwas wie ein It-Girl.
Okay, ich habe ihr in unserer Heimat Searcy, Arkansas, ein Haus mit vier Zimmern gekauft. Aber nur einen Bungalow, ein zweites Geschoss war wegen der Wirbelstürme, die diese Gegend oft in Mitleidenschaft ziehen, nicht möglich. Dafür hat sie aber im Bad zwei Waschbecken – eine Tatsache, die Mom besonders begeistert. Sie meinte: „Beth, jetzt hab’ ich für jede Brust ein eigenes Becken.“

Haben Sie sich auch ein Haus gekauft?
Vor zwei Jahren schon, da bin ich in ein nagelneues Haus in Portland gezogen. Ein paar Freunde hätten es besser gefunden, wenn ich in ein altes viktorianisches Haus einziehe. Ohne mich! Wer weiß, welche Geister in so einem alten Gemäuer leben.

Sie fürchten sich vor Geistern?
Meine Freunde haben Angst, dass jemand in ihre Wohnung einbricht, ich fürchte mich davor, dass es in meiner Wohnung spukt. Das ist eine irrationale Grundangst, tief in mir drin. Ich weiß, die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Einbruchs zu werden, ist höher, aber ich sage mir: Einen Einbrecher kann ich verjagen, doch einen Geist kann ich nicht die Treppe hinunterschubsen. Deshalb habe ich auch meiner Mutter ein ganz neues Haus geschenkt.

Beth Ditto versucht mehr oder weniger vergeblich, den Saum ihres Kleides bis zu den Knien zu ziehen. Überraschend: Trotz ihrer Körperfülle wirkt sie zerbrechlich.

Ihre Mutter arbeitet also weiter als Bedienung bei McDonald’s?
Nein, die Zeiten sind vorbei. Sie hat inzwischen einen neuen Job in einer Metallspulen-Fabrik gefunden. Sie hatte wirklich Glück: In Amerika Arbeit zu finden, ist gerade nicht leicht.

Sie sind mit sechs Geschwistern in einem Trailerpark aufgewachsen, mitten im religiös geprägten „Bible Belt“. Wie hat Ihre Familie reagiert, als Sie mit 15 offenbarten, dass Sie lesbisch sind?
Ziemlich gelassen – sie dachten, das sei nur eine Phase, die auch wieder vorübergeht. Viel schlimmer war für meine Mutter, als ich ihr mit 20 Jahren eröffnete, ich würde nicht an Gott glauben. Das ist für sie meine einzige Sünde.

Fiel es Ihnen schwer, Ihre Homosexualität offen zuzugeben?
Ja, schon. Ich bin auch eine Zeit lang mit einem Jungen ausgegangen, so mit 15. Das war halt Standard, ich kannte es nicht anders. In meinem Umfeld gab es weder homosexuelle Vorbilder noch hatte ich eine Anleitung wie „How to Be Gay“. Das Einzige, was half, war, dass meine dicke Tante Jenny eine echte Männerhasserin war.

Eine Männerhasserin?
Ja, sie saß den ganzen Tag lang in Unterwäsche vor dem Fernseher, guckte „Matlock“-Folgen, schimpfte über ihre Liebhaber und rauchte, bis der Aschenbecher glühte. Sie müssen sich die vorstellen wie Patty oder Selma, die Schwestern von Marge Simpson. Mehr als Männer verabscheute sie eigentlich nur die Republikaner, weil die sich Ende der 90er Jahre zu wahren Gotteskriegern erklärten.

Ihre Familie bildete eine große Ausnahme im konservativen Herzland.
Eigentlich nicht. Als Teil der Arbeiterklasse waren wir schon immer aufrechte Demokraten. Wir waren alle auf Bill Clintons Seite.

Beth Ditto verändert ihre Sitzposition. Genauer gesagt versucht sie, ihre Beine unterzuschlagen, was ihr misslingt. Wahrscheinlich verflucht sie innerlich ihr kurzes Kleid.

Stimmt es eigentlich, dass Sie Clinton als Kind einmal zufällig begegnet sind?
Ja, es muss 1987 gewesen sein, ich war sechs. Bill Clinton war damals Gouverneur von Arkansas. Mom hatte uns alle in ihren Pick-up-Truck geladen, wir fuhren zur 200-Jahr-Feier nach Georgetown, der ältesten Stadt in Arkansas. Ich saß hinten auf der Ladefläche und hatte gerade einen Zigarettenstummel abbekommen, den mein Stiefvater aus dem Autofenster geschmissen hatte, außerdem standen meine Haare vom Fahrtwind wild ab. Als wir ankamen, sah ich Clinton auf der anderen Straßenseite und winkte und schrie so lange, bis er herüberkam. Ich zog eine Dollarnote aus der Tasche und bat ihn, darauf zu unterschreiben. Er sagte bloß: „Schatz, ich glaube, das wäre illegal.“ Ich muss einen ziemlich desolaten Eindruck gemacht haben.

Sie sind damals jeden Sonntag in die Bibelschule gegangen. Erinnern Sie sich an ein Kirchenlied, das Sie heute noch berührt?
„His Eyes on a Sparrow“. Wunderschön.

Das kennen wir leider nicht.
Sie singt mit glockenhellem Sopran: „I sing because I’m happy, I sing because I’m free …“ Es wäre schön, wenn sie für den Rest der Interviewzeit einfach weitersingen würde. Doch dann fragt sie plötzlich:

Erinnern Sie sich daran, wie Anfang des Jahres lauter tote Vögel vom Himmel fielen?

Ja.
Das war unter anderem in Searcy. Ich war gerade zu Hause und als Mom einkaufen gefahren ist, hat sie beobachtet, wie massenweise Rotschulterstärling-Kadaver auf die Straße klatschten. Das war nicht gut, sie glaubt ja an die Apokalypse.

Und Sie? Beten Sie manchmal?
Ich bin sauer auf Christen, nein, eigentlich auf alle Menschen, die religiös sind. Sie haben etwas, an das sie glauben. Ich probiere stattdessen, an mich selbst zu glauben, mir zu vertrauen. Das ist harte Arbeit, kann ich Ihnen sagen.

Gelingt es Ihnen?
Hängt davon ab. Würde ich ein Kind umbringen? Sicher nicht. Würde ich eine Schachtel Doughnuts verschmähen? Nein.

Die Hotelsuite ist voller Obst- und Kuchenplatten, die so gut wie unberührt sind. Auch alle Getränke hat Beth Ditto abgelehnt.

Haben Sie eine Lieblingsgeschichte aus der Bibel?
Die Geschichte von Maria Magdalena. Liegt vielleicht daran, dass ich einige Prostituierte kannte, in Portland, wo ich mit 20 Jahren hingezogen bin. In Arkansas haben die Menschen eine komische Wahrnehmung von Prostitution. Sie denken an Jesus und Maria Magdalena, an den gönnerhaften Mann und seine Freundin. Damit hat die Wirklichkeit natürlich gar nichts zu tun.

Ihr Lieblings-Bibelzitat?
Das stammt aus dem Buch Ruth: „Wohin du gehst, dahin gehe auch ich, und wo du bleibst, da bleibe auch ich. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott.“ Ich muss zugeben: Das habe ich nicht aus der Bibel, sondern aus dem Film „Grüne Tomaten“.

Was gibt Ihnen das?
Mir kommen dabei meine alten Freunde aus der Kindheit in den Sinn, zu denen ich den Kontakt halte. Zum Beispiel zu Cathy, die bei „The Gossip“ Bass gespielt hat. Ich habe sie aus der Band geworfen, weil ich wollte, dass sie zurück zur Schule geht. Das war eine gute Entscheidung – wir sind wieder Freunde.

Es gibt diesen Song von Faithless: „God is a DJ“. Glauben Sie daran?
Ich war nie eine große Clubgängerin. Lieber mag ich Privatpartys, da kann ich mit dem iPod selbst die Musik aussuchen, zu der ich tanzen will. Und wenn ich einmal auf der Tanzfläche bin, kriegt mich niemand so schnell weg.

Geben Sie zu: Sie sind ein Kontrollfreak.
Jeder will doch zu diesem einen Song tanzen, auf den man die ganze Zeit heimlich wartet.

Lesen Sie im zweiten Teil des Interviews, womit man Beth Ditto glücklich macht, warum sie mit Models so gut klarkommt, wie sie in Arkansas Karl Lagerfeld kennen lernte und warum sie bei Modenschauen immer in der ersten Reihe sitzt.

Womit macht man Sie glücklich?
Mit 90er-Jahre-Hip-Hop von Missy Elliot, Punkrock von Huggy Bear und so. Oder Country.

Und mit elektronischer Tanzmusik. Die Soloplatte ist Ihr erster Versuch, Titel nur für Clubs zu singen. Gibt es eine Universal-Tanzbewegung, die zu jeder Musikrichtung passt?
Mein Kumpel Jerry und ich hatten früher eine super Choreografie. Wir tanzten nebeneinander, bewegten unsere Schultern synchron rauf und runter und klatschten dazu in die Hände – die Grundbewegung von Soul passt sogar zu Punk.

Wenn wir den amerikanischen Highschool-Serien glauben, verkörpern Sie nicht unbedingt das Ideal der Prom-Queen. Erinnern Sie sich an Ihre ersten Highschool-Partys?
Besser fand ich Feste zu Hause. Da haben wir einfach Lautsprecher in die Fenster unseres Trailers gestellt, Mixtapes eingelegt und draußen im Dreck barfuß getanzt, bis die Sonne unterging.

Auf Ihrer neuesten EP ist ausschließlich elektronische Musik zu hören, klassische Clubmusik. Ihre längste Partynacht?
In London, bei einem Freund zu Hause. Wir tanzten die ganze Nacht bis in den Vormittag hinein. Aber ansonsten habe ich nie viele Drogen genommen, so ein Rave-Kid bin ich nicht.

Ecstasy?
Drei Mal, das war’s dann aber auch.

Ihr bestes Kater-Rezept?
Vor dem Schlafen einen Happen essen. Ich will nicht mit leerem Magen aufwachen, dann geht es mir noch schlechter. Dazu schön viel Cola, damit der Blutzuckerspiegel nicht absackt, ein Antihistaminikum und eine Xanax …

… ein verschreibungspflichtiges Beruhigungsmittel, das bei Angststörungen verabreicht wird!
Mein Hausarzt hat es mir für Langstreckenflüge gegeben.

Sie haben Flugangst?
Nein, das nicht. Aber mir wird manchmal unwohl, wenn ich mitten in der Nacht irgendwo über dem Atlantik aufwache, mit meinen Gedanken allein bin und weiß: Ich bin noch weitere sieben Stunden in diesem Flugzeug gefangen.

Beth Ditto schweift jetzt kurz ab und schwärmt von den wundervollen „Betten“, die jüngst in der First Class einer Airline für sie zusammengebaut wurden.

Mittlerweile gehören Sie zum Jetset. Sie fliegen nicht nur zu Konzerten, sondern auch zu Modenschauen, bei denen Sie sogar über den Laufsteg gehen, zuletzt für Jean-Paul Gaultier.
Ja, Wahnsinn. Kurz bevor es losging, dachte ich nur: Hoffentlich ruiniere ich ihm mit dem 3-D-Matrosenkleid nicht die Schau. Ich wollte wirklich, dass er gute Presse bekommt.

Backstage waren Sie mit Ihren 1,58 Meter bestimmt die Kleinste.
Ach, ich komme mit Models gut klar, da gibt es viel Schulterklopfen. Wenn sie um mich herum sind, fühle ich mich wie auf dem Schulhof. Dann bin ich wieder die kleine Dicke, die mit dem dünnen Schwulen spazieren geht. Warum funktioniert so etwas bloß immer?

Weil es für niemanden eine Konkurrenzsituation ist?
Wahrscheinlich. Die Models wissen, dass mir ihr Geschäft egal ist. Übrigens gibt es Backstage bei so einer Schau viel mehr Dicke, als Sie vielleicht glauben: Stylisten, Visagistinnen, Friseure …

Wann haben Sie zum ersten Mal von dem Deutschen Modemacher mit dem grauen Zopf gehört?
Karl Lagerfeld? Der hat mich schon als Teenager total fasziniert.

Wie haben Sie denn von seiner Existenz erfahren?
Aus den internationalen Modemagazinen meiner schwulen Freunde natürlich. Ich mag das Frauenideal von damals sehr: große, kurvige Amazonen wie Cindy Crawford und Claudia Schiffer. Auch Karl sah in den 90er Jahren fantastisch aus.

In den 90er Jahren? Das war, bevor er sich in die Hedi-Slimane-Hosen gehungert hat.
Ich habe einen Wunsch: dass er mir seine Klamotten von damals schickt. Die passen ihm doch eh nicht mehr. Er sollte sie mir wirklich überlassen, finden Sie nicht?

Auf jeden Fall.
Ich bewundere ihn auch für seine Fächer und verstehe, warum er sie hat. Es ist verdammt noch mal heiß auf diesen Modenschauen. Die heizen wie verrückt.

Wenn Sie nicht selber laufen, sitzen Sie für gewöhnlich in der ersten Reihe. Ist Ihnen das nicht zu eng?
Wem sagen Sie das?

Zu Demonstrationszwecken rutscht Beth Ditto auf dem Sofa hin und her und entschuldigt sich bei unsichtbaren Sitznachbarn: „Excuse me, excuse me.“

Würden Sie gern mal einen Tag lang mit Ihrer Freundin Kate Moss tauschen?
Nein. Lieber würde ich mit Nathan tauschen, unserem Gitarristen. Damit ich endlich verstehe, was in seinem Hirn vorgeht. Sonst bin ich absolut mit mir im Reinen. Natürlich weiß ich, dass man mich anders behandeln würde, wenn ich dünner wäre.

Wie denn?

Wie ein menschliches Wesen. Die meisten haben Angst vor Dicken. Und heterosexuelle Männer beachten mich kaum. Nicht, dass ich deren Aufmerksamkeit bräuchte.

Was machen Sie, wenn Sie mal so richtig Spaß haben wollen?
Dann räume ich mein Wohnzimmer aus, lege riesige Matratzen rein und lade meine Freunde ein …

… und feiern eine Orgie? Frau Ditto!
Äh, ich dachte eher an einen faulen, langen Abend vor dem Fernseher. Darf ich auch mal eine Frage stellen? Ja? Sie haben wunderbare Füßchen. So klein. Wo haben Sie die Schuhe her?

Aus Berlin.
Wirklich? Einer meiner besten Freunde wohnt dort, in Kreuzberg. Er ist Musiker.

Die Zeit ist um. Eine Erkenntnis bleibt: Von Beth Ditto umarmt zu werden, tut überraschend weh.

Die Fragen stellten Ulf Lippitz und Esther Kogelboom.

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