zum Hauptinhalt

Beyond Belonging: Poesie in der Martkhalle

Berlins Einwanderer: das grandiose Performancefestival "Beyond Belonging". Das Festival „Beyond Belonging: Translokal“ weitet den Blick, in vielerlei Hinsicht. Keine schlechte Entscheidung von Matthias Lilienthal, es am HAU mit einer Inszenierung zu beginnen, die uns entrückt erscheinen muss.

Linh ist 44 Jahre alt, sie stammt aus Hanoi, betreibt ein Nagelstudio, hat eine Tochter, eine gescheiterte Ehe hinter sich und zwei Kredite abzubezahlen. Über Nasrin erfährt man noch weniger: Sie stammt aus dem Iran, vielleicht ist sie nach Deutschland gekommen, um Verfolgung zu entgehen, vielleicht wegen der Verlockungen des Westens. Es bleibt im Dunkeln. Was weiß man schon über diejenigen, die man Migranten, Mitbürger oder Mitmenschen nennt – und was will man wissen? Ist es möglich, sich in andere hineinzuversetzen, mit einer Perücke und einem MP-3-Player, der einem eine ferne Lebensgeschichte erzählt? Das Festival „Beyond Belonging“, das in seiner vierten Ausgabe in Kooperation zwischen dem Hebbel am Ufer und dem Ballhaus Naunynstraße stattfindet, stößt immer wieder auf diese Fragen, die man sich nur selbst beantworten kann.

„Die große Geld oder Leben Tour“, die der israelische Regisseur Michael Ronen für das Ballhaus Naunynstraße eingerichtet hat, führt per Bus in entlegene Wirtschaftsräume Berlins, und zwar nicht in solche, wo Menschen arbeiten, die vom Staat leben und diesen Staat ablehnen, etwa Investmentbanker, sondern mitten hinein ins migrantische Gewerbe Berlins. Man bereist das Dong Xuan Center in Lichtenberg, Europas größtes vietnamesisches Handelszentrum, ein Markthallen-Areal voller fernöstlicher Ramschgeschäfte, Restaurants und Salons. Man betritt Wettbüros im „Zentrum Kreuzberg“, man besucht die türkischen Autowerkstätten hinter dem Kreuzberger Finanzamt in den ehemaligen Pferdeställen der Preußischen Armee. Es ist eine Tour im Galopp, aber sie öffnet Räume, vor denen man sonst nicht mal die Augen verschließt.

„Niemandsland“ nennt sich der Stadtrundgang, den der Niederländer Dries Verhoeven im Auftrag des HAU für Berlin adaptiert hat. Ein „fremder Führer“, ein Guide nichtdeutscher Herkunft, nimmt den Besucher am U-Bahnhof Wittenbergplatz in Empfang und mit auf eine Reise durch seinen Kiez. Wie beispielsweise Nasrin, deren mit Vorurteilen spielende Geschichte über Kopfhörer erzählt wird, während man der Frau folgt und gewärtigt, wie sich die bekannte Umgebung in terra incognita zu verwandeln beginnt. Der Rundgang endet in einer Holzhütte abseits der U-Bahn-Trasse in Finsternis, mit sanfter Stimme singt Nasrin ein persisches Lied. Ein Moment von Poesie.

Das Festival „Beyond Belonging: Translokal“ weitet den Blick, in vielerlei Hinsicht. Keine schlechte Entscheidung von Matthias Lilienthal, es am HAU mit einer Inszenierung zu beginnen, die uns entrückt erscheinen muss. In „Turbo Folk“ widmet sich der kroatische Regisseur Oliver Frljic einer Spielart discotauglicher Volksmusik, deren nationalistische und sexistische Texte von der Jugend im ehemaligen Jugoslawien heute recht unreflektiert betanzt werden. Das wirft die Fragen nach den Erscheinungsformen von Rassismus und Ausgrenzung noch einmal anders auf, die in allerlei Facetten auch in flankierenden Vorträgen und Diskussionen auf der Agenda stehen. Im Fokus freilich: die Probleme des antiislamischen Rassismus und der neuen Orientklischees.

Die migrantischen Künstler indes haben mehr zu erzählen als von ihrer Ausgrenzung, sie sind ja auch längst nicht mehr nur Schattenstimmen im deutschen Theater, woran das Format „Beyond Belonging“ einen nicht geringen Anteil hat.

„Man braucht keinen Reiseführer für ein Dorf, das man sieht“ heißt das jüngste Stück von Tim Staffel, das der Regisseur Nurkan Erpulat am HAU mit so viel Tempo, Unbekümmertheit und Schnoddrigkeit auf die Bühne wirft, dass die Ethnokonflikte bloß noch Farcematerial sind. In seifigster Soap-Manier erzählt der Text von einer türkischen Familie im Wrangelkiez, er mixt Attacken gegen die Gentrifizierung mit grellen Topoi aus der Lebenslügenabteilung, und dazu erklingen deutsche Volksweisen. Eine Inszenierung voll wilder Energie.

Die strahlt auch der Parcours „Was will N. in der Naunynstraße“ aus, den sechs Künstler an Shermin Langhoffs Ballhaus Naunynstraße frei nach dem Poem von Aras Ören eingerichtet haben, das als erstes Stück „Gastarbeiterliteratur“ gilt. Eine der besten Stationen nennt sich „Hochparterre“, Nevin Aladag hat sie in einem Hinterhof der Naunynstraße eingerichtet. Es ist eine Collage aus Interviews mit Anwohnern, biestige Altmieter hört man das Verschwinden der anständigen Kneipen beklagen, junge Türken den Sozialstaat preisen und die diskriminierten Deutschen des Viertels bedauern. Die Stadt steckt voller grandioser Geschichten. Gleich welcher Herkunft.

Noch bis 28. 11. im Ballhaus Naunynstraße, www.ballhausnaunynstrasse.de

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false