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Gold für Bulgarien: Regisseurin  Ralitza Petrova gewinnt in Locarno den Goldenen Leoparden für ihren Sozialkrimi "Godless".

© dpa/Alexandra Wey

Bilanz des 69. Filmfests Locarno: Der innere Blick

Von Künstlern, Krankenschwestern - und Menschen in Städten: zum Abschluss der 69. Filmfestspiele Locarno.

Manchmal haben Festivals etwas Tröstliches. Seit Ewigkeiten ist von der Krise des Kinos die Rede, und plötzlich steht man in einer Schlange mit Menschen in Wanderkleidung. Knapp haben sie den Abstieg vom Berg zum Beginn der Vorführung geschafft. In Locarno plant der Tessin-Reisende den Kinobesuch zwischen Tretbootausflügen und Seilbahnfahrten als festen Programmpunkt ein. Bestimmt, so meint man, probt ein Festival mit derartigem Publikumszuspruch, den Spagat zwischen Zuschauer- und Kritikerfilm, will weder über- noch unterfordern. Doch präsentiert sich das 69. Filmfest Locarno ziemlich frei von solchen Kompromissen. Lieber betreibt man im Tessin eine ganz eigene Bilderpolitik – und die beginnt auf der Piazza Grande.

Natürlich ist die riesige Freiluftleinwand, die sich über die verwinkelten Gassen der Altstadt erhebt, ideale Abspielstätte für Actionspektakel wie den neuen „Bourne“-Film. Doch braucht es wirklich Matt Damon im Geschwindigkeits- und Adrenalinrausch, um 7000 Zuschauer in Bann zu schlagen? Was ist das überhaupt, Bilder, die die große Leinwand füllen? Was sind große, was kleine Filme?

Ganz still wurde es in diesem Jahr auf der Piazza, als Maria Schrader in ihrem Stefan-Zweig-Film „Vor der Morgenröte“ (der in Locarno seine internationale Premiere hatte) von der Melancholie eines heimatlosen Lebens erzählt, in unaufdringlichen Szenen. Mit dem von Josef Hader gespielten Schriftsteller lässt man den Blick über die brasilianischen Regenwälder schweifen. Man meint, mit dem geistigen Auge eines Anderen sehen zu können. Die Bilder der Erinnerung an die Heimat, die keine mehr ist, sind präsent, ohne dass sie gezeigt werden müssen.

Zu schön, um gut zu sein

Vielleicht funktioniert ein Film gerade dann nicht als großes Publikumskino, wenn er zu sehr als solcher gedacht ist. Wenn der Regisseur über die opulente Ausstattung und die schön ausgeleuchteten Landschaftsbilder vergisst, einen eigenen Blick auf seine Titelheldin zu werfen oder ihren Blick in die Erzählung mit einzubeziehen. Christian Schwochow präsentierte seinen Film über die Malerin Paula Modersohn-Becker ebenfalls auf der Piazza Grande. Allerdings wird hier eine Biografie mit vielen Schauwerten eher nacherzählt als nachempfunden. Und sind die Bilder von Schwochows „Paula“ nicht einfach zu schön für eine Malerin, die sich gerade nicht von Worpswedes nebelverhüllten Moorlandschaften inspirieren ließ? Modersohn-Becker nahm ihre Leinwand ja gewissermaßen von der Staffelei und fand die Motive auf der Straße, im Alltag der Landbevölkerung. Was sie dort suchte, zeigt „Paula“ leider nicht, lieber verharrt die Kamera auf dem farbbeklecksten Gesicht der Künstlerin.

Im Siegerfilm "Godless" besucht eine Krankenschwester ihre Klienten in den trostlosen Wohnsiedlungen
Im Siegerfilm "Godless" besucht eine Krankenschwester ihre Klienten in den trostlosen Wohnsiedlungen

© www.pardo.ch

Um so schöner, dass im Wettbewerb Filme liefen, die sich auf den Blick ihrer Helden und Heldinnen einließen, auch wenn diese gerade ihre Umgebung aus den Augen verlieren. Gana zum Beispiel: Eher lieblos, fast mechanisch geht sie ihrer Arbeit als Altenpflegerin nach. Ihr Gesicht ist verschlossen, ihr Ausdruck mürrisch. „Godless“, der Gewinner des Goldenen Leoparden, nimmt uns mit in ein Bulgarien der Plattenbauten und trostlosen Siedlungen, eingetaucht in das fahle Licht eines Winters, der nicht aufhören will. Mit Gana betritt man unbehauste Wohnungen, wie abgestellt wirken die alten Mieter und Mieterinnen, das dünne Süppchen auf dem Tisch. Regisseurin Ralitza Petrova zeigt eine junge Frau, deren Körper von der Härte und Gnadenlosigkeit der Gesellschaft infiziert wurde. Gana scheint wie verpanzert, betäubt den Schmerz mit den Mitteln der Patienten. Sie stiehlt die Reisepässe der Alten, ist in korrupte Machenschaften verwickelt.

Ein Film im klassischen kastigen 4:3- Format – doch plötzlich scheint sich der Ausschnitt zu weiten. Gana gelingt es, sich aus der Lethargie zu lösen, weil sie in der Einsamkeit der Wohnungen ihrer eigenen begegnet. Ihr Blick öffnet sich, mit einer gewissen Zärtlichkeit schaut sie nun auf die alten Körper, beginnt eine leise Rebellion. Für ihre eindringlich unaufdringliche Darstellung einer Frau, deren Verhärtung sich zu lösen beginnt, wurde Irena Ivanova zu Recht als beste Darstellerin ausgezeichnet.

"Peter Handke – Bin im Wald. Kann sein, dass ich mich verspäte ...“ heißt der Porträtfilm von Corrina Belz, der ebenfalls in Locarno zu sehen war.
"Peter Handke – Bin im Wald. Kann sein, dass ich mich verspäte ...“ heißt der Porträtfilm von Corrina Belz, der ebenfalls in Locarno zu sehen war.

© Hoehnepresse

Kann man die Welt noch ins Visier nehmen, wenn man von ihr abgeschnitten ist und die meiste Zeit seines Lebens in einem Sanatorium verbringen muss? Auch in „Vernarbte Herzen“ des Rumänen Radu Jude, ausgezeichnet mit dem Spezialpreis der Jury, wird der Blick der Hauptfigur zur zentralen Perspektive, die es dem Zuschauer emöglicht, sich in einem Leben mit all seinen Stimmungen und Atmosphären umzuschauen. „Vernarbte Herzen“ basiert auf dem gleichnamigen autobiografischen Buch des 30-jährig an Knochentuberkulose gestorbenen Schriftstellers Max Blecher. Ein wahrhaft horizontaler Film: Die meiste Zeit liegt der junge Mann eingegipst im Bett. Bei Radu Jude wird das Sanatorium zum Mikrosmos für die Befindlichkeiten europäischer Intellektueller zu Beginn des Nationalsozialismus. Eingesperrt im Elfenbeinturm, veranstalten die Patienten einen Tanz auf dem Vulkan. Sie wissen um ihre Ohnmacht, können als geistige Elite nicht in das Geschehen einzugreifen. Offenen Auges sehen sie der Katastrophe entgegen.

„Lieblingsfilm?“ Bei dem Wort stutzt Peter Handke, schaut leicht verdrossen in die Kamera. In Locarno stellte Corinna Belz ihren Porträtfilm über den Schriftsteller außer Konkurrenz vor: „Peter Handke – Bin im Wald. Kann sein, dass ich mich verspäte ...“. Man kann dabei zusehen, wie sich der Schriftsteller allmählich der Kamera anvertraut, die Blicke in die Abgeschiedenheit seines Lebens in einem Landhaus in der Nähe von Paris nicht nur zulässt, sondern darauf reagiert. Handke lässt sich nicht abfilmen, befragen, vielmehr gewährt er Einblick in die Werkstatt der Schriftstellerei. Beim Sticken oder beim Pilzeputzen reflektiert er sein Handwerkszeug, das Wort und die Sprache.

Angela Schanelec zeigt Menschen in Berlin

Kann man mit der Bezeichnung Lieblingsfilm auch der jüngsten Arbeit von Angela Schanelec gerecht werden? Im Wettbewerb lief Schanelecs „Der traumhafte Weg“, der in den 80er Jahren in Griechenland beginnt und ein Paar zeigt, das gemeinsam singt, um sich den Ferienaufenthalt zu finanzieren. 30 Jahre später leben beide in Berlin, ohne von einander zu wissen. Die Kamera folgt weiteren Menschen, etwa der Schauspielerin Arianne, die sich von ihrem Mann trennt und deren Tochter, die eine gute Fußballerin ist.

Ausgezeichnet. Irena Ivanova als Krankenschwester im Siegerfilm „Godless“, Maren Eggert in Angela Schanelecs Berlinfilm „Der traumhafte Weg“.
Ausgezeichnet. Irena Ivanova als Krankenschwester im Siegerfilm „Godless“, Maren Eggert in Angela Schanelecs Berlinfilm „Der traumhafte Weg“.

© Festival, Hoehnepresse

Handlung, Erzählung, solche Begriffe passen nicht zu den Filmen der Berliner Regisseurin. Man kann nicht einmal von losen Handlungssträngen sprechen, muss sich einlassen auf ihre Wahrnehmung, ihre Vision. Auf Bilder, die zunächst einmal zeigen wollen, ohne Bedeutung zu transportieren, ohne die Figuren zu Identifikationsträgern zu machen. Es sind Bilder, die unseren Blick suchen. Man kann zusehen, wie Menschen durch das neue Berlin rund um den Hauptbahnhof ziehen, ihren Platz suchen. Auch ihre Gefühle sind im Transit. Innere Bewegungen werden sichtbar. Was möchte man mehr vom Kino?

Anke Leweke

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