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FAZ-Herausgeber und Journalist Frank Schirrmacher.

© dpa/Fredrik von Erichsen

Biografie über Frank Schirrmacher: Der Erregungstechniker

Seine Dampfmaschinen waren Debatten: Michael Angele porträtiert Frank Schirrmacher.

Kindkaiser ist er genannt worden, Hochstapler und, besonders schön, Karlsson vom Dach. Frank Schirrmacher hat zeitlebens die Fantasie von Bewunderern und Verächtern beflügelt. Sein Aufstieg zu einem der mächtigsten Männer des deutschen Journalismus verlief rasant. Mit 29 Jahren wurde er Literaturchef der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, mit 35 einer ihrer Herausgeber. Bis zu seinem frühen Tod im Juni 2014 setzte Schirrmacher immer wieder die Themen, über die nicht nur in den Feuilletons diskutiert wurde: Chancen und Gefahren der Digitalisierung, die Überalterung der Gesellschaft, der Kapitalismus als eine Ökonomie des radikalen Egoismus. Enthusiasmus wechselte bei ihm mit Menetekelei. Der Vorwurf mangelnder Seriosität hat ihn stets begleitet.

„Schirrmacher brachte Leben in die Bude“, schreibt Michael Angele. Der stellvertretende Chefredakteur der Wochenzeitung „Freitag“ beginnt sein Buch über Schirrmacher mit einem augenzwinkernden Spiel: dem Vergleich mit Astrid Lindgrens Kinderbuchhelden Karlsson. Karlsson, ein kleiner dicker Mann mit Propellerantrieb, mag ein Angeber sein, aber er kann fliegen. Er behauptet, der „weltbeste Baumeister“ zu sein und tausende Dampfmaschinen zu besitzen. Schirrmachers Türme, konstatiert Angele, „waren die ungezählten Projekte und Ideen, seine Dampfmaschinen hießen ,Debatten’“. Die Karlsson-Analogie geht auf den „Spiegel“-Reporter Dirk Kurbjuweit zurück. Karlsson ist ein großer Flunkerer, ein Dampfplauderer im Wortsinn. Aber in der Metapher steckt auch ein Lob. Denn langweilig wurde es mit Schirrmacher selten.

Er machte Blogger zu Autoren seiner Zeitung

Schirrmacher war ein Kommunikationsjunkie und ein Kommunikationsgenie. Den Medienwandel hat er nicht bloß in Bestsellern beschrieben, er hat ihn auch selbst verkörpert. Er schrieb Tag und Nacht Mails, an Kollegen und Bekannte, aber auch an Nerds, die er im Internet entdeckt hatte. So machte er einige Blogger, deren Texte im Netz er interessant gefunden hatte, zu Autoren seiner Zeitung. Intensiver als zumindest zeitweilig in seinem Feuilleton wurde in keinem anderen deutschen Medium über Zukunftstechnologien diskutiert. Schirrmacher war vom World Wide Web fasziniert, doch er warnte auch vor den Gefahren von Big Data und der Dominanz des Silicon Valley.

Sein 2009 erschienenes Sachbuch „Payback“ handelt von der nervös leerlaufenden digitalen Kommunikation. Das „Denken“, befand er, „wandert buchstäblich nach außen; es verlässt unser Inneres und spielt sich auf digitalen Plattformen ab“. Schirrmacher gestand, dass es ihm, abgelenkt von den Informationskanälen des Webs, immer schwerer falle, sich auf ein Buch zu konzentrieren. Angele sieht darin eine „große Abschiedsgeste“. Der Autor verabschiede „ein Gutteil seiner eigenen Sozialisation und Bildung“, er verabschiede Buchkultur und Literatur.

Stets eine Ausgabe der Buddenbrooks in der Aktentasche

Schirrmacher, 1959 in Wiesbaden geboren, schwärmt während seines Germanistikstudiums für den Dichter Stefan George, den er „Meister“ nennt. Er sucht Anschluss an das Castrum Peregrini, einen männerbündischen Kreis von George-Verehrern in Amsterdam, doch der Schriftsteller Wolfgang Frommel, der die Peregrini-Stiftung gegründet hat, findet, dass es dem Studenten an Authentizität mangele. Schirrmachers Einstieg in den Journalismus ist spektakulär. Als erster Text von ihm erscheint 1983 eine ganzseitige Besprechung von Hofmannsthals zehnbändiger Werkausgabe in der FAZ.

Damals, erzählte Schirrmacher später, habe er „wie in einem Bildungsroman“ gelebt. In seinen frühen Jahren bei der FAZ inszeniert er sich wie eine Reinkarnation von Felix Krull, dem ehrgeizigen, nicht immer ehrlichen Aufsteiger aus Thomas Manns Roman. Er kann seitenlange Texte aus der Feder des Herausgebers Joachim Fest rezitieren und hat stets eine Ausgabe der „Buddenbrooks“ in seiner Aktentasche. Zu Fests Nachfolger wird er auch deshalb, weil sich Helmut Kohl hinter den Kulissen für ihn einsetzt. Schirrmacher beherrscht die Kunst des Antichambrierens, Angele spricht von einem „beeindruckenden Networking“.

Die Berliner Seiten der FAZ konnten sich nicht durchsetzen

Fest, der vom Fernsehen kam, öffnete das Feuilleton für politische Themen. Schirrmacher setzt diese Tradition fort, mitunter wird aus der Popularisierung bei ihm eine Form der Boulevardisierung. Sein größter Coup ist die legendäre Ausgabe, die seine Zeitung im Juni 2000 zur Entschlüsselung des menschlichen Genoms druckt. Der Kulturteil besteht über sechs Seiten hinweg nahezu ausschließlich aus Sequenzen mit den Buchstaben A, T, G und C. Ein Kunstwerk, das unlesbar ist und signalisiert, dass eine neue Ära anbricht. Mit Blattmachen im klassischen Sinn hat das nicht mehr viel zu tun, es geht um die Provokation.

Andere Projekte scheitern. Die Berliner Seiten, die dem oft trocken wirkenden Blatt ab 1999 einen Hauch Experimentierlust und Verspieltheit verschaffen, werden 2002 schon wieder abgeschafft, weil sie keinen erkennbaren Einfluss auf die Verkaufszahlen haben. Die Pläne, die Feuilleton-Redaktion in die Hauptstadt zu verlegen, werden abgeblasen. Der Anzeigenmarkt ist eingebrochen, die Zeitungskrise hat begonnen. Eine Niederlage? „Ich verspüre ungebrochenen Tatendrang“, versichert Schirrmacher in einem Interview.

Manches im Buch verliert sich im Anekdotischen

Angele hat für die Berliner Seiten gearbeitet, doch getroffen hat er Schirrmacher nur zwei Mal. Ein längeres Gespräch fand nicht statt, so sind die Unterhaltungen mit Dutzenden von Schirrmachers Wegbegleitern die Hauptquelle für das Porträtbuch geworden. Manches verliert sich im Anekdotischen, und wenn noch einmal die Palastrevolten gegen den Feuilleton-Fürsten minutiös nacherzählt werden, ist das zwar unterhaltsam, aber bloß noch bedingt brisant.

Frank Schirrmacher war eine Ausnahmeerscheinung, ein Mensch, der wie aus einem Roman herausgefallen zu sein schien. Der ehemalige FAZ-Redakteur Jens Jessen bezeichnet ihn als „Erregungstechniker schlechthin“. Neugier trieb Schirrmacher an – und die Sucht, seine Leser und sich selbst immer wieder von Neuem zu überraschen.

Michael Angele: Schirrmacher. Ein Porträt. Aufbau Verlag, Berlin 2018. 222 Seiten, 20 €.

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