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Kultur: Blair oder Bla

Englands Premierminister wird Ratspräsident der EU: eine provokative Chance

Eben noch hat sich Britanniens Premierminister Tony Blair in Brüssel als „leidenschaftlicher Europäer“ bezeichnet. Da klang er für die meisten EU-Parlamentarier etwa so wie ein bekennender Trinker vorm Kongress der Anonymen Alkoholiker. Überhaupt ist das eine pikante Dramaturgie des Zufalls. Europas Union stürzt mit dem Votum der EU-Verfassungsgegner in Holland und Frankreich ins Schlamassel, der britische Premier verhindert gleich darauf einen EU-Haushaltskompromiss der Regierungschefs – und übernimmt nun am Freitag als Ratspräsident das EU-Krisenmanagement.

Schnell und wohlfeil wird Blair hier zum Bock als Gärtner erklärt. Europa jedoch ist kein Paradies mehr der Krauts und Frösche, und nur zu viele Gärtner bocken selbst. Auch ist der Mittelmeerliebhaber und Toskana-Fraktionsvorsitzende Blair alles andere als ein Anti-Europäer. Sogar baskische, korsische oder norditalienische Separatisten nennen sich heute überzeugte Europäer. Nur verfechten sie gleichzeitig die Idee einer neuen, regionalistischen Kleinstaaterei.

Der gleiche Widerspruch bestimmt nicht nur in Frankreich oder in den Niederlanden die Ablehnung einer europäischen Verfassung. Man pocht auf den Nationalstaat als soziale, wärmende Festung gegen den frostigen Wind der neoliberalen Globalisierung. Und verdrängt, dass nur eine transnationale Macht vom Gewicht der Europäischen Union noch Einfluss auf die politischen, sozialen und lebenskulturellen Konturen der Globalisierung nehmen könnte. Peter Sloterdijk hat jüngst im Tagesspiegel-Interview von „nationalen Halluzinationskammern“ gesprochen. Und Jürgen Habermas, der „eine schrittweise Harmonisierung der Steuer-, Sozial- und Wirtschaftspolitik der Mitgliedsländer“ fordert, verweist gleichzeitig auf den „unausgetragenen Zielkonflikt“ zwischen schierer Freihandelszone und vertiefter politischer Einheit der Union.

Das Dilemma ist: Philosophen sprechen über ideale Ziele, selbst ein Funktionär wie EU-Kommissionspräsident Barroso wünscht sich sonntagsredend einen neuen „europäischen Geist“. Doch in den Bevölkerungen der Mitgliedsstaaten fehlt es jenseits von aktuellen Populismen oder archaischen Ressentiments kaum an Idealen. Keine Mehrheit in keinem Land möchte wieder Krieg in Europa oder die Grundfreiheiten und Menschenrechte auf diesem Kontinent in Frage stellen. Neue wirtschaftliche, neue existentielle Ängste machen indes misstrauischer gegenüber den Illusionen ewiger Wohlfahrt und Prosperität.

Tony Blair, der aus gewiss eigennützigen Interessen die bisherigen EU-Agrarsubventionen angegriffen hat, beginnt immerhin Tacheles zu reden. Wenn es mit der allgemein geforderten Selbstbesinnung der EU etwas werden soll, dann wäre jetzt ein ziemlich radikaler Realismus angebracht. Man nehme nur den Stabilitätspakt von Maastricht. Der war als Motor konsolidierender Haushaltspolitik und zur Wertsicherung des neuen Euro sinnvoll. Aber klar ist, dass Länder wie Griechenland, Italien, Frankreich oder Deutschland den Pakt in den kommenden Jahren wieder nicht einhalten werden. Keine, auch keine neue Regierung wird die sozialen Verteilungskämpfe augenblicklich mit einer gnadenlosen Austerity-Politik weiter schüren.

Darum ist Maastricht noch nicht Makulatur. Aber wie die Politik in Deutschland (das Lafontainment ausgenommen) um die Wahrheit und die Widersprüche zwischen den Chancen von heute und den Schulden von morgen nicht mehr herumkommt, so holt die Wirklichkeit auch Brüssel ein. Blair, um seinen Britenrabatt mit dem Angriff auf Frankreichs Agrarbeihilfen zu verteidigen, hat das Geldfass bereits aufgemacht. Blairs und Chiracs Glück ist noch, dass die Berliner Regierung akut geschwächt und durch Deutschlands Verantwortung für Krieg und Zerstörung in Europa historisch belastet ist.

Würden die Deutschen ihre nationalen Interessen ähnlich rigoros wie einige andere EU-Mitglieder wahrnehmen, müssten die riesigen Berliner Nettozahlungen an Brüssel nach allen Lasten der Wiedervereinigungskosten längst zur Disposition stehen. Brüssel müsste dann tatsächlich Bilanz ziehen. Mit fast neun Milliarden Euro empfängt etwa Spanien weiterhin das, was die Bundesrepublik überzahlt – obwohl die Iberer die Deutschen inzwischen mit modernisierter Infrastruktur und glänzendem Wohlstand nicht nur in Madrid oder Barcelona vielfach in den Schatten stellen.

Das Thema ist peinlich und konfliktreich. Um Geld und Macht aber geht es immer. Um die demokratische Moral viel seltener. Brüssel, das auf Fusionen und Transaktionen noch in der kleinsten europäischen Gemeinde sieht, hat sich gegenüber der politisch-publizistischen Machtkonzentration im Berlusconi-Italien bisher blind gestellt. Im vorerst gescheiterten Entwurf einer EU-Verfassung heißt es immerhin auf Seite 50 von über 400 Seiten im Artikel II-71 „Die Freiheit der Medien und ihre Pluralität wird geachtet“.

Was diese Achtung im Falle einer bestehenden Missachtung bedeutet, bleibt in dem schwampfigen Monstrum aus allgemeinen Menschenrechten, Leerformeln („Vollbeschäftigung“), Freizügigkeitsklauseln und speziellem Verordnungs- dschungel ungewiss. Damit kann man Europa nur regulieren. Nicht inspirieren.

Die EU hat allen trotz allem Gewinn gebracht. Aber ein Europa, das Sarajewo und Srebrenica nicht verhindern konnte, das Berlusconis Travestie der Mediendemokratie toleriert, das seine nächsten Kandidaten Rumänien und Bulgarien kaum bezahlen kann und mit der Türkei-Diskussion die Gegenwart überspringt, dieses Europa braucht vor einer neuen, entrückten Verfassung noch sehr viel Klartext. Blair statt Blah, das könnte hier mehr sein als ein Kalauer.

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