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Kultur: Böse Mädchen kommen überall hin

Blauer Engel oder Primadonna der Leinwand: Die Opernhäuser in Frankfurt am Main und Bonn erforschen Alban Bergs „Lulu“

Die bitteren Lacher kommen prompt. Wenn im dritten Akt der „Lulu“ der bodenlose Fall der Jungfrau-Aktien verkündet wird, weiß das Frankfurter Opernpublikum wohl besser als irgendein anderes, was auf dem Spiel steht. Denn Bergs aus Trieb, Gier und Sarkasmus gewebter Opernstoff liegt hier sozusagen auf der Straße: Die Nutten, Gauner und Manager, um deren verfehlte Lebensplanung es auf der Bühne geht, laufen ein paar hundert Meter weiter im Bahnhofs- und Bankenviertel gleich dutzendweise herum. Die Welt ist in dieser Hinsicht immer noch nicht viel besser geworden. Das Schicksal dieses blauen Opernengels, der nur für den Sex lebt und stirbt und dem die Männer reihenweise zum Opfer fallen, hat auch von daher seine moritatenhafte Züge – ein Märchen, geschrieben von der Boulevardpresse, dessen innere Logik immer reißerischere, skandalösere Fortsetzungen verlangt.

Richard Jones, der britische Meisterregisseur, macht in Frankfurt schon gleich zu Anfang klar, dass „Lulu“ auf keinen Fall als dramatische Opernhandlung im romantischen Sinn verstanden werden will: „Adult Entertainment“ lockt die Leuchtschrift vor dem Etablissement, in das die Leute scharenweise strömen, um sich zu amüsieren. Man spielt diese „Unterhaltung für Erwachsene“ in deutlich erkennbaren Kulissen (Bühne: Paul Steinberg) und mit allen Tricks und Gags, die das Boulevardtheater so kennt: Lulus alter Kumpan Schigolch (der unverwüstliche Bassbuffo-Veteran Carlos Krause) rutscht immer an der gleichen Stelle aus, wenn er die Treppe heruntersteigt, die auf dem Boden ausgebreiteten Bärenfelle mit ihren ausgestopften Köpfen scheinen gar aus „Dinner for one“ entliehen. Doch Jones benutzt – ebenso wie Berg – die Mittel des Entertainments, um die Leere in der Turbulenz zu zeigen: All die Männer, die Lulu um sich versammelt wie Motten um eine Glühbirne, funktionieren als tragikomische Boulevardtypen: Der Maler, der in Unterwäsche über die Bühne pest, Chefredakteur Dr. Schön (Terje Stensvold mit gutbürgerlich imposantem Bassbariton), der als düpierter Ehemann mit Gießkanne und Gärtnerschürze dasteht, der Komponist Alwa (Raymond Very), der sich mit dem großmäuligen Athleten um seine Brieftasche kloppt. Zugleich jedoch wird deutlich, dass sie alle dem erotischen Prinzip Lulu nichts entgegenzusetzen haben, dass die Projektion ihrer Begierden auf dieses Mädchen ihr einzig sinnstiftender Lebensinhalt ist: Der Maler macht mit Lulu-Pin-Ups Karriere, der Komponist schreibt ihr Opern und Revuen, der Journalist Kritiken – die Erotik, so Jones und Berg, ist ihnen allen zur Ideologie geworden. Selbst die einzige selbstlos Liebende, die Gräfin Geschwitz (die jugendlich inbrünstige Martina Dike) wird in dieses grausame Spiel integriert – schon durch den Adelstitel als Relikt einer untergegangenen Zeit entlarvt, wird sie bei Jones zu einer Komischen Alten wie aus einem OscarWilde-Stück: Die Ideale von einst taugen nur noch für einen Ulk.

Konsequenterweise sind die zahllosen Kostüme – von der üppigen Tosca-Robe bis zum Josephine-Baker-Fast-Nichts –, in denen Lulu immer wieder ihre glanzvollen (und am Ende tristen) Auftritte hat, bloße Typenmaskeraden, die das charakterliche Nichts darunter immer stärker hervortreten lassen. Lulu als Urform des Mannequins, dessen Marktwert allein durch ihre Eignung als Projektionsfläche bestimmt wird – und deren Schicksal deshalb konsequent in die Prostitution, und opern- wie boulevardgerecht in der Ermordung durch Jack the Ripper im ersten Moment echter Hingabe mündet. Zum Glück hat Frankfurt mit seiner Primadonna Juanita Lascarro eine fabelhafte Sängerdarstellerin parat, die nicht nur in jedem Kostüm sexy aussieht und die heikle Partie tadellos singen kann, sondern es auch noch fertig bringt, Lulu in ihrer charakterlichen Leere zum bedauernswerten Opfer der Verhältnisse werden zu lassen – in ihren unschuldig anmutigen Soprankapriolen vermittelt sich immer auch eine Ahnung, dass dieses Mädchen eigentlich ein ganz anderes Schicksal verdient hätte.

Und zum Glück für diese erste Saisonpremiere (einer Koproduktion mit der English National Opera London) an der gerade zum Opernhaus des Jahres gewählten Frankfurter Oper gelingt auch Paolo Carignani die musikalische Gratwanderung aus Mimikry und Verzerrung, aus Entertainment und Gnadenlosigkeit. Carignani dirigiert Berg nicht aus der Perspektive einer asketischen Moderne, sondern von Strauss und Puccini her: Als fabelhaft detaillierte, gestische Theatermusik, die sinnlichen, dosiert schwülstigen Klang mit einem klaren sinfonischen Grundgerüst in Übereinstimmung bringt. Die Anklänge an Schlager, Operette und Revue sind für ihn nichts anderes als bloße Klangkulissen, die im formalen Verlaufsprozess erbärmlich demontiert werden. Denn die Musik liefert sich als einzige dem Boulevard nicht aus – und behauptet jene Kultur, die die Figuren auf der Bühne längst preisgegeben haben. Und darin liegt wohl das ganze Geheimnis dieses Stücks.

Der Filmemacher Werner Schroeter ist, wie man weiß, der Bühnenkunst verfallen. Die Bühne wiederum drängt ihn hin zum Film, zu Figuren wie Salome, Maria Malibran, zu Persönlichkeiten wie Martha Mödl oder Marianne Hoppe, der „Königin“. Schroeters „Lulu“-Inszenierung am Theater Bonn ist erneut Hommage an eine Frau. Diesmal allerdings handelt es sich nicht um eine Grande Dame wie Hoppe, sondern um eine junge Primadonna: Anat Efraty als Lulu. Dass die israelische Sängerin mit der Rolle schon andernorts Triumphe gefeiert hat, steht diesem Kunstwerk nicht im Wege. Denn Schroeter überhöht ihre Persönlichkeit auf seine Weise: Indem er Alban Bergs Musiktheater der eigenen Filmhandschrift zuführt. Das Gesicht der Darstellerin in Großaufnahme, die Verklärung der Bühnen-Lulu im Film – das lässt verstehen, „dass sie trotz allem Fürchterlichen, das durch sie geschieht – so geliebt wird“. Alban Bergs Wort trifft auf Schroeters Inszenierung zu. „Dem Andenken eines Engels“ überschreibt er sein Konzept mit der Widmung des Bergschen Violinkonzerts, das die Arbeit an „Lulu“ unterbrochen hat. Jener Engel aber – an Wedekinds mythische Pandora angelehnt – will bei Schroeter Mensch werden. Was der Regisseur mit Efraty zeigt, ist ein faszinierend ungehemmtes Mädchen, dessen Wesen der Sphäre der bürgerlichen Moral entrückt ist. Die traumhafte Koloratur der Protagonistin, ihr Bildnis, ihr Filmporträt sind als Dreiklang kaum zu überbieten: Heißt das Stück nun „Lulu“ oder „Anat Efraty“?

Mehr Film war in der Oper nie. Berg verlangt in seinem Werk – gemäß der Avantgarde der Zwanzigerjahre – ein Stummfilm-Intermezzo, das Lulus Befreiung aus dem Gefängnis zeigt. Als Mörderin ihres Geliebten und Gatten Dr. Schön nimmt sie hierfür die Hilfe der Gräfin Geschwitz in Anspruch, die ihr in Liebe ergeben ist. Das bedeutet radikale Ausbeutung eines edlen Charakters (dessen sensibler dramatischer Mezzo in der Aufführung Hanna Schwarz gehört), führt einmal nur, dankbar, verlegen, zur Berührung der Hände.

Das Material dieses Stummfilms durchkreuzt einen Tonfilm, den Schroeter aus dem gesamten Paris-Bild des dritten Akts gemacht hat. Wir stehen vor einer Großleinwand im Foyer des Bonner Opernhauses und sehen das Ensemble – die Herren im Frack – szenisch agieren oder aus Notenbüchern singen, auf deren Deckeln naturgemäß „Lulu“ steht. Mit acht Monitoren dringt das Gefängnis in den gefilmten Salon, wo Mädchenhändler, Bankier und „Springfritze“ das Sagen haben, bis Lulu durch Flucht entkommt.

Selbst wer Friedrich Cerhas Herstellung des dritten Akts der Oper „Lulu“ bewundert und diese Fassung dem zweiaktigen Torso vorzieht, wird ab und zu von Bedenken heimgesucht, dass die Länge des Paris-Tableaus mit seinen vielen Nebendarstellern nervt. Streichen ist aus urheberrechtlichen Gründen untersagt. Auf durchaus unterhaltsame Weise macht der Film rettend den Weg frei für Bergs Dramaturgie: Die Freier der Lulu in der Londoner Elendsmansarde werden durch ihre einstigen Ehemänner dargestellt. Warum der rundliche Dr. Schön alias Jack the Ripper (Pavlo Hunka) mittels eines schlanken „Todesengels“ gedoubelt wird, warum ein Adventskalender (Bühne und Kostüme: Alberte Barsacq) mit frohlockenden Engeln das Geschehen eröffnet, wird allerdings nicht verraten.

Mit dem Beethoven Orchester Bonn bringt Generalmusikdirektor Roman Kofman den komplexen, lebendigen Organismus der Partitur sachkundig zum Klingen. Im Ensemble dominieren neben den beiden Protagonistinnen Adalbert Waller als Schigolch, ein feiner Herr aus besseren Tagen, und Fabrice Dalis mit der glühenden Aktivität seiner Liebesgesänge als Alwa, der Sohn des Dr. Schön. Mit choreografierten Dialogen ist das Spiel insgesamt beweglich und – im Sinne Bergs wie des Dichters Wedekind – zirkusbetont. Respekt auch vor den ausgewählten Männern der Theater-Statisterie, die Bühnenarbeit mit Artistik verbinden. Sybill Mahlke

„Lulu“ in Frankfurt a.M. wieder am 11., 18., 20., 23. und 26. Oktober; „Lulu“ in Bonn wieder am 16. und 26. Oktober.

Jörg Königsdorf

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