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Kultur: Brüsseler Spitze

2010 liegt Europas Kulturhauptstadt in Deutschland: 17 Kommunen wollen den Titel

Das fängt ja gut an: Drei Wochen, bevor die 17 deutschen Bewerber ihre Unterlagen offiziell einreichen müssen, steht noch immer nicht fest, ob die Bundesrepublik wirklich im Jahr 2010 die europäische Kulturhauptstadt stellen darf. Dabei war nach bester Brüsseler Sitte eigentlich alles ganz genau abgesprochen: Nicht nur beim Bananenkrümmungswinkel, auch bei der Titelvergabe wollten die Eurokraten korrekt sein und verabschiedeten im Mai 1999 die „Einrichtung einer Gemeinschaftsaktion zur Förderung der Veranstaltung Kulturhauptstadt Europas für die Jahre 2005 bis 2019“. Hier wurde festgeschrieben wann welches Mitglied Benennungsrechte für das geistige Gravitationszentrum der EU hat; in diesem Jahr sind es Genua und Lille. Und auf Deutschland entfiel dabei eben das Jahr 2010.

Wie Pilze schossen daraufhin die Interessenten aus dem Boden, die unbedingt die dritte deutsche Kulturhauptstadt nach Weimar 1999 und Berlin 1988 sein wollten. Das E-88Jahr war für den Westteil Berlins ein Pool von Ideen und Veranstaltungen, aus dem lange geschöpft wurde.

Nun haben auch die Stadtväter in Augsburg, Bamberg und Braunschweig, Bremen, Görlitz, Halle, in Karlsruhe, Kassel, Köln und Lübeck, Münster, Osnabrück, Potsdam und Regensburg Visionen ausgebrütet. In Sachsen-Anhalt und NordrheinWestfalen kam es sogar zu Gemeinschaftsprojekten: Dessau und Wittenberg bewerben sich im Doppelpack, mit dem Kreis Lippe tritt ein ganzes ehemaliges Duodezfürstentum an, das Ruhrgebiet geht mit Essen als treibender Kraft ins Rennen.

Dann aber ließ der Vorsitzende des europäischen Ausschusses für Kultur, Jugend, Bildung, Medien und Sport, Michel Rocard, eine Bombe platzen: Weil sich der Kreis der EU-Länder ab dem 1. Mai 2004 bekanntlich um zehn Mitglieder erweitere, sei die geltende Absprache einfach ungerecht und solle nur noch bis 2008 gelten. Danach müssten alle Mitglieder dieselben Chancen auf eine Kulturhauptstadtkandidatur haben. Darum solle dann jedes Land in jedem Jahr zwei Städte der EU-Kommission empfehlen können. Skandal!, rief der deutsche Kulturrat und forderte Staatsministerin Christina Weiss auf, beim EU-Kulturministertreffen dafür zu sorgen, dass an Deutschlands Vorschlagsrecht für 2010 nicht gerüttelt werde.

In der vergangenen Woche ging das Treffen in Dublin dann allerdings über die Bühne, ohne dass der Casus Kulturhauptstadt überhaupt auf der Tagesordnung erschien. Olaf Zimmermann, Vorsitzender des Deutschen Kulturrats, hat inzwischen unter den europäischen Parlamentariern sondiert und dabei festgestellt, dass die Zustimmung für Rocard keineswegs gesichert ist. Vielmehr steigen die Chancen, einen Kompromissvorschlag durchzubekommen, wonach der EU-Osterweiterung mit einem TandemModell Rechnung getragen werden soll. Das sieht vor, jeweils ein Neumitglied zusammen mit einem der Stammmitglieder zu berücksichtigen. Dann gäbe es jährlich zwei Kulturhauptstädte, und neben Deutschland käme 2010 auch Ungarn zum Zuge.

Die diplomatische Zitterpartie in Brüssel mag in den Bewerberstädten manches Stirnrunzeln auslösen – die generelle Begeisterung für die Kulturhauptstadt-Idee allerdings dürfte sie kaum tangieren. Denn ein Jahr lang im Licht der europäischen Aufmerksamkeit zu stehen, ist für fast alle lokalen Entscheidungsträger attraktiv, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen: Die Stadtväter hoffen auf einen dauerhaften Image-Upgrade. Graz, Europas Kulturhauptstadt 2003, ist ihnen dabei ein leuchtendes Vorbild. Um ganze 25 Prozent vermochte die zweitgrößte Stadt Österreichs die Übernachtungszahlen im vergangenen Jahr zu steigern. 2,75 Millionen Menschen kamen zu den fast sechstausend Veranstaltungen. Ein Drittel des Gesamtbudgets wurde ins Marketing gepumpt, mit dem Ziel, das lange als verschlafene Rentnerhochburg verschriene Graz im überregionalen Bewusstsein als junge, lebendige City zu implantieren.

Doch nicht nur die Herzen der Besucher fliegen der Kulturhauptstadt zu, sondern auch Fördergelder in Millionenhöhe. Zwar muss der EU-Zuschuss jedes Mal neu verhandelt werden, da es sich aber um eines der Prestigeprojekte der Gemeinschaft handelt, lassen sich die Brüsseler bestimmt nicht lumpen. Und auch Kulturstaatsministerin Christina Weiss hat schon durchblicken lassen, dass auch die nationale Bundeskulturstiftung mit einer erklecklichen Summe dabei sein wird.

Mögen die Bürger vor Ort während des kulturhauptstädtischen Treibens auch über den Touristentrubel stöhnen – für sie rechnen sich die zwölf Monate auf lange Sicht: Das Thema Nachhaltigkeit nämlich ist stärker ins Blickfeld gerückt, seit dank der Initiative der griechischen Kulturministerin Melina Mercouri Athen 1985 zur ersten Kulturhauptstadt Europas ausgerufen wurde.

„Projekte zur Förderung der Einbeziehung des architektonischen Erbes in neue Strategien zur Stadtentwicklung“ heißt das umständlich in den Evaluierungskriterien der EU. Damit ist nichts anderes gemeint, als dass behutsame Renovierung der Substanz mit menschenfreundlicher Modernisierung Hand in Hand gehen soll. Neben den 58 Millionen Euro, die Graz 2003 für das Programm zur Verfügung standen, wurden weitere 150 Millionen Euro in die Infrastruktur gesteckt, zum Beispiel in das spektakuläre Museum für Zeitgenössische Kunst, das zwar schon lange in der Diskussion war, ohne das Kulturhauptstadtjahr aber wohl keine Chance gehabt hätte.

Auf solche positiven Nebenwirkungen hoffen die Kulturmacher nun auch in den deutschen Bewerberstädten. Sie wissen, dass der Hauptstadt-Zuschlag fast schon eine Lebensversicherung ist: für die Theater, Museen und freien Gruppen der Kommune. Welcher Stadtkämmerer würde es schließlich wagen, in der potenziellen Kulturhauptstadt den Kulturetat anzutasten?

Zumindest bis zum Frühjahr 2006 gilt das für alle 17 Aspiranten. Dann erst wird der Gewinner bekannt gegeben. Nachdem die Bewerbungen von den regionalen Stellen bis 31. März entgegengenommen wurden, werden sie an das Auswärtige Amt weitergeleitet (2. Quartal 2004), von wo sie dem Bundesrat zur Stellungnahme zugestellt werden (3. Quartal). Die Länderkammer darf sich dafür neun Monate Zeit lassen. Dann schließlich gelangen die Unterlagen über das Außenministerium an die EU, wo ein internationales, siebenköpfiges Expertengremium eine Kommune auswählt.

Ein paar clevere Menschen aus Augsburg haben sich übrigens bereits die Internet-Adresse www.kultur2010.de gesichert und wollen im Netz einen „offenen, visionären und interdisziplinären Dialog“ führen, zum Beispiel zu der Frage „Wie eitel darf Kunst im Jahr 2010 noch sein?“. Eines steht für die Macher des Forums schon heute fest: „Kultur wird im Jahr 2010 einen größeren Stellenwert in der Politik, in den Medien und in der Wirtschaft besitzen.“

Im nordfranzösischen Lille, sonst bestenfalls ein Ort der Durchreise, scheint sich der Kulturhauptstadt-Trick ähnlich auszuzahlen wie in Graz: So lebendig war die Provinz nie.

Diskussionsforum www.kultur2010.de. Mit Links zu den Websites aller Bewerberstädte.

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