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Bitte etwas Geduld. So sah es einst in der VW-Telefonvermittlung aus. Foto: p-a/KPA/Andres

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Buch der Woche: Das Böse verbindet

In den Schaltzentralen der Welt, mit Schostakowitsch im Mittelpunkt: Der amerikanische Schriftsteller William T. Vollmann verbindet in seinem monströsen und gefeierten Roman „Europe Central“ Faschismus und Stalinismus.

„Ein plumpes, schwarzes Telefon“. Mit diesen Worten beginnen die tausend Seiten von William T. Vollmanns Roman „Europe Central“. Und doch ist nicht einfach ein Telefon gemeint. Sein Erfinder Alexander Graham Bell hatte seinem an Tuberkulose sterbenden Bruder versprochen, ein Gerät zu entwickeln, das es erlauben würde, über den Tod hinaus mit ihm in Kontakt zu bleiben. Der Idee des Telefons liegt also von Anfang an die Vorstellung zugrunde, nicht nur räumliche, sondern auch zeitliche Entfernungen überbrücken zu können. Welten verbinden, das will Vollmann, und das Telefon ist sein Leitmotiv.

Die Verbindungen wurden anfangs noch manuell in der „Central“ hergestellt. Und mit „Europe Central“, dem Roman, für den er 2005 den National Book Award erhielt, nistet sich William T. Vollmann wie ein Spion in einer solchen Schaltzentrale ein, der Schaltzentrale Europa, um in 37 chronologisch geordneten Geschichten und über einen Zeitraum von 61 Jahren hinweg, zwischen 1914 und 1975, den mit einer Vielzahl von Stimmen vorgetragenen Todeskampf des alten und den Geburtswehen des heutigen Europas zu lauschen.

Dreh- und Angelpunkt sind der Zweite Weltkrieg sowie der Kampf von Faschismus und Stalinismus. Wer jeweils redet, muss der Leser herausfinden. „Ich“ sagt mal ein aufgebrachter, überzeugter oder auch enttäuschter Nazi, mal ein Mitglied des russischen Geheimdienstes. Sie wachen über bekannte und unbekannte Protagonisten und erzählen davon, welchen Part sie in entscheidenden historischen Momenten gespielt haben.

„Ein plumpes, schwarzes Telefon“, so heißt es zu Anfang, dann aber weiter: „eine Krake wollte ich sagen.“ Denn wie eine Krake umklammern die Geschichten des Romans ihre Protagonisten, nähern sich von mehreren Seiten. Zu den derart Wortumschlungenen gehören die Malerin, Zeichnerin und Bildhauerin Käthe Kollwitz, der Komponist und Dirigent Dimitri Schostakowitsch nebst seiner Geliebten Elena Konstantinowskaja, der Pianist Van Cliburn, die Dichterin Anna Achmatowa, die als „Rote Guillotine“ bekannte DDR-Richterin Hilde Benjamin, Feldmarschall Paulus, Oberbefehlshaber der 6. Armee in der Schlacht um Stalingrad oder der sowjetische Generalleutnant Andrei Wlassow.

Vollmann vermischt Fakten und Fiktion

In den Vordergrund rückt dabei die fiktive Dreiecksgeschichte zwischen Dimitri Schostakowitsch und seiner Geliebten Elena sowie dem sowjetischen Dokumentarfilmer Roman Karmen. Schostakowitsch hatte tatsächlich eine Affäre mit der Übersetzerin Elena Konstantinowskaja, was 1935 sogar vorübergehend zu einem Bruch mit seiner Frau, der Physikerin Nina Varzar führte. Allerdings hielt diese Beziehung realiter kaum ein Jahr, während Schostakowitsch in Vollmanns Roman sein Leben lang darum trauert, dass er Elena nicht heiratete. Ein Konflikt, der den Autor leider auch dazu verführt, sich immer wieder in schier endloser Liebeslyrik zu versuchen.

Wenn Vollmann in einer langen Analyse von Schostakowitschs Cello-Sonate op. 40 die Liebe zu Elena heraushört, klingt das zum Beispiel so: „Elenotschka, Ljalka wollte ich sagen, oder noch besser, meine vollkommenste aller russischen Ljalkas, dein sind alle Namen! Du bist mein Juwel, ach, wirklich, und ich bin nur ein, ein... für dich möchte ich ein Raketentechniker sein; ich weiß, du magst Raketen.“ Schostakowitsch war kein Dissident, er kritisierte das Regime nicht wie Anna Achmatowa mit „Requiem“, diesem Klagelied gegen den Terror der Stalinzeit. „Denke ich an mein Leben zurück“, sagte Schostakowitsch über sich selbst, „wird mir klar, dass ich ein Feigling war.“ Aber er überlebte in der Diktatur, schrieb seine Musik und vermochte durch seinen Einfluss immer wieder Freunden und seiner Familie zu helfen.

William T. Vollmann, 1959 in Los Angeles geboren, wusste schon mit sechs Jahren, dass er Schriftsteller werden wollte. Nach dem Studium arbeitete er in einer Versicherungsgesellschaft, bis er genügend Geld hatte, um Anfang der achtziger Jahre nach Afghanistan zu reisen. Dort kämpfte er mit den Mudschaheddin gegen die sowjetische Armee. Seine Erfahrungen fanden ihren Niederschlag in dem Buch „Afghanistan Picture Show oder Wie ich die Welt rettete“. Nach der Rückkehr arbeitete er als Programmierer, ohne viel Ahnung von Computern zu haben. Als man ihn nach einem Jahr feuerte, hatte er seinen ersten Roman geschrieben, im Büro, wo er unterm Schreibtisch wochenlang auch schlief, den großen Papierkorb so vorgerückt, dass ihn die Reinigungskräfte nicht fanden. Zu essen gab es für ihn in dieser Zeit vor allem Schokoriegel der Marke „Three Musketeers“.

Vollmann geht es um Metamorphosen

Zu dieser Zeit freundete er sich auch mit den Prostituierten im Tenderloin-Distrikt in San Francisco an, über die er seine erste Kurzgeschichtensammlung „The Rainbow Stories“ schrieb. Er reiste in die Krisengebiete des ehemaligen Jugoslawien, nach Kambodscha, Somalia und in den Jemen, in den Irak, nach Kolumbien, Vietnam und Mexiko. Er fror im zu dünnen Schlafsack am magnetischen Nordpol, interviewte Opium-Warlords in Südostasien, Skinheads, Mörder, Zuhälter und militante Tierschützer. Seit über einem Jahrzehnt arbeitet er an „Seven Dreams“, einem Multi-Roman-Projekt über die Geschichte der USA, dessen fünfter Band in diesem Jahr erscheint. 2003 veröffentlichte er „Rising Up and Rising Down“, eine dreieinhalbtausend Seiten lange Untersuchung über die Gewalt, deren Geschichte und Motive – und ein wichtiger Korrespondenztext zu „Europe Central“.

Die „Washington Post“ rückte ihn in die erste Reihe jüngerer amerikanischer Schriftsteller und behauptete gar, dass es wohl nur drei Autoren gelingen werde, in 100 Jahren neben Herman Melville, Mark Twain oder William Faulkner genannt zu werden, nämlich William Gaddis, Thomas Pynchon – und ihm.

Nun, „Europe Central“ ist nicht zuletzt das Resultat einer gigantischen Fleißarbeit – auch seines meist verlässlichen Übersetzers Robin Detje, der leider gleich zu Anfang aus dem „octopus“ einen Tintenfisch und keine Krake macht. Allein fast 80 Seiten Anmerkungen und Fußnoten beweisen, wie penibel Vollmann sein Material recherchiert hat. Für den Leser wird allerdings nur selten klar, wo der Autor den historischen Raum verlässt und ins Fiktive hinübergleitet. Man weiß nie recht, ob man sich noch auf dem Boden der Geschichte oder schon im freien Raum der Fantasie bewegt. Und trotz all der Stimmen, die der Abhöragent in der Schaltzentrale Europa uns zu Gehör bringt, mal mit Schostakowitsch, mal mit Wagners „Götterdämmerung“ untermalt, bleiben die Figuren über weite Strecken blass und leblos. Sie erinnern an Kleiderbügel, über die nur ein historisches Kostüm gehängt wurde.

Man versteht, dass es dem Ovid-Kenner Vollmann um Metamorphosen geht. Um die Rebellion des kadavergehorsamen Feldmarschalls Paulus gegen den Befehl des Führers, in Stalingrad durchzuhalten. Oder um den Seitenwechsel von Generalleutnant Andrei Wlassow, der mit der Russischen Befreiungsarmee auf Seiten der Faschisten kämpft. Doch so faszinierend dies für den Historiker sein mag, den Leser des Romans nimmt es nur passagenweise gefangen und ermüdet immer wieder rasch. „Verlorene Siege“ heißt das letzte Kapitel. Vielleicht ist dies auch eine Formel, um der Ambivalenz dieses Monstrums gerecht zu werden.

William T. Vollmann: Europe Central. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Robin Detje. Suhrkamp, Berlin 2013. 1028 Seiten, 39,95 €.

Bernhard Robben

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