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Buch- und Schriftkultur: Das Geisterhaus

Von der Keilschrift zum Binärcode: In Leipzig eröffnet das Deutsche Buch- und Schriftmuseum seine neue Dauerausstellung. Gezeigt werden Exponate aus drei jahrtausenden, darunter auch Kuriositäten wie abgetippte Karl-May-Romane aus der DDR

Einst hatte Volkswagen in den USA mit Anzeigen geworben, die nur die Abbildung eines Hühnereis zeigten, mit dem Slogan: „Es gibt Formen, die man nicht verbessern kann.“ Das war zu Zeiten des VW-Käfers. Bis vor einigen Jahren dachte wohl auch die Mehrheit der alphabetisierten Menschheit, dass es kaum eine genialerere Form als zwei Buchdeckel und dazwischen bedrucktes Papier gebe, um das Wissen der Welt getrost und handlich nach Hause tragen zu können. Nun aber erinnert die eben eröffnete neue Dauerausstellung des Deutschen Buch- und Schriftmuseums in Leipzig auch an die Vergänglichkeit oder zumindest Veränderbarkeit der eigenen Basis.

Unter dem Titel „Zeichen – Bücher – Netze: Von der Keilschrift zum Binärcode“ sollen tausend Objekte auf ebenso vielen Quadratmetern „5000 Jahre Mediengeschichte“ erzählen. Das klingt schnell nach Überfrachtung und mächtiger Belehrung. Doch gleich der erste Blick in das von Stephanie Jacobs geleitete Museum vermittelt Licht, Luft und Leichtigkeit. Die Stuttgarter Architektin Gabriele Glöckler hat das 60 Millionen Euro teure Haus als elegant geschwungenen Anbau wie ein silbgriges, an der Außenhaut auch mit ein paar Popfarben leuchtendes Raumschiff aus Glas und Metall entworfen. Und hat es an das Halbrund des turmbewehrten, spätwilhelminischen Pracht- und Trutzbaus gefügt, der die vor 100 Jahren gegründete Deutsche Nationalbibliothek – im Leipziger Süden, nahe dem früheren Messegelände und dem Völkerschlachtdenkmal – mit 27 Millionen Büchern, Schriften, Datenträgern beherbergt.

Drinnen herrscht hellste, durchaus augenfreundliche Dämmerung. Um die hinter gleichfalls geschwungenen Glaswänden gruppierten Exponate, vor allem ältere Drucke und Illustrationen, zu schonen, werden UV-Strahlen und andere Lichteinflüsse bereits in der raumhohen Außenverglasung raffiniert gefiltert. Dort nimmt alles seinen Anfang bei Keilschrift und Hieroglyphen, beim Papyros, dem Palmblattbuch oder einem Goldstoff mit chinesischer Tusch-Kalligraphie und einigen der ursprünglich 80 000 Schriftzeichen, die Mao 1956 bei einer dem technischen Fortschritt und seinen Grenzen geschuldeten Reform auf gut 3000 eher maschinenschriftfähige Zeichen reduzierte.

Freilich sieht man auch eine Muschelkette mit einer darin enthaltenen Liebesbotschaft aus dem zentralafrikanischen Niam-Niam und lernt, was es mit dem berühmten „Kerbholz“ auf sich haben konnte. Ziehen wir unter einem Glaskasten die Schublade, sitzt darin eine winzige Spielzeugschafherde, die uns kräftig anmäht. Das von einer irischen Insel stammende gefurchte Holzstück diente dem Schäfer und seinem Messer zum Zählen der Tiere. Ein ähnlicher Effekt ergibt sich, wenn aus einer Lade Schiffssirenen ertönen, während darüber das Modell der „SS Great Eastern“ das Verlegen des ersten Transatlantikkabels Ende des 19. Jahrhunderts und damit die Fernschreibverbindung von Europa nach Amerika versinnbildlicht. Man merkt hier auch, dass das Deutsche Buch- und Schriftmuseum bereits Kinder und Schulklassen auf der Grundstufe ansprechen möchte.

Überraschungen gibt es indes für jedes Alter. Wenn es um den Anbruch der Gutenberg-Ära im 15. Jahrhundert geht, erfährt man nicht nur anhand koreanischer Wachsguss-Vorlagen, dass es bewegliche Lettern und Abreibe-Verfahren zur Herstellung von Schriftkopien bereits früher in Asien gab. Man wird angesichts zahlreicher Gutenberg-Illustrationen auch fast beiläufig darauf aufmerksam, dass ausgerechnet vom Erfinder des Buchdrucks, vom Vater der Vervielfältigung von Schrift und Bild und Begründers der modernen Massenkommunikation kein einziges authentisches Porträt existiert.

Interessant ist, was in der Fülle der Objekte wie nebenher auffällt. Beispielsweise beim Thema „Zensur“, der Kehrseite der dank Gutenberg praktisch möglich gewordenen Druckpressefreiheit. Ausgestellt werden Exemplare des 1559 begründeten vatikanischen Index, etwa zur Abwehr des kopernikanischen Weltbildes – bis hin zur letzten Schwarzen Liste des Heiligen Stuhls von 1948. Dokumentiert werden exemplarische Fälle wie der Skandal um Arthur Schnitzlers erotischen „Reigen“ oder eine NS-„Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ vom 31. 12. 1938. Später tauchen Klaus Manns „Mephisto“-Roman oder Florian Havemanns teilweise geschwärzte Memoiren als Exempel neudeutscher juristischer Händel auf. Ausgerechnet Viktor Klemperer aber, der so großartig Zeugnis abgelegt hat von der Verfolgung und Sprachverrohung im „Dritten Reich“, begegnen wir nach 1914, abkommandiert zur „Prüfstelle Leipzig beim Oberbefehlshaber Ost“, als Militärzensor der im 1. Weltkrieg zum Feldpostversand zugelassenen Bücher.

Noch kurioser wirkt der Fall von Heinz Thümmler: Der sächsische Karl-May- Liebhaber hatte für seine Söhne auf einer Reiseschreibmaschine vom Typ „Erika“ (die schon Bert Brecht schätzte) 21 Romane des bis 1982 in der DDR verbotenen Abenteuerschriftstellers 17 Jahre lang auf 6000 Seiten abgetippt. Das erscheint, obwohl nur ein Wimpernschlag zurück in der Weltgeschichte, heute schon Lichtjahre entfernt. Von archaischen Stelen und Tonscherben bis zu einer Nachbildung der von der Nasa mit dem digitalen Weltwissen ins All geschickten, angeblich Jahrtausende lang unzerstörbaren „Orbiter“- Disc geht die Reise im flanierenden Fluge. Vorbei am Industriezeitalter mit 25 Stichthemen („Arbeitsteilung“ bis „Zeitung“), entlang an einer Videoschauwand hin zu den „virtuellen Bibliotheken“ und digitalen Netzwerken. Bald sollen da noch iPads zur bisher fehlenden interaktiven Kommunikation und zur Beantwortung individueller Fragen hinzukommen. Ebenso wie ein Museumskatalog im Laufe des Jahres.

Trotz einiger Prunkstücke wie der Schedelschen Weltchronik von 1493 ermangelt die vom Berliner Büro Iglhaut + von Grote gestaltete Ausstellung allerdings des wirklich Auratischen. Eine museale Versinnlichung etwa der Bibliomanie, der bis zu Genie und Wahnsinn gesteigerten Lese- und Schreiblust, der Verlegerleidenschaft und der erst bildungs-, dann unterhaltungssüchtigen Massenfaszination durch Bild und Wort. Man könnte auch sagen, der Zauber – den etwa Lothar Müllers gerade erschienenes Buch „Weiße Magie. Die Epoche des Papiers“ sehr gelehrt zu erzählen versucht (Hanser Verlag, 383 Seiten, 24, 90 €).

So ist zumindest ein Abstecher zu empfehlen aus der Dauerausstellung in den über die schöne Freitreppe ins Hauptgebäude der Bibliothek zu erreichenden „Tresor“. Hier ruhen wechselnde, vor allem Außenlicht besonders zu schützenden Schätze des Museums: so zur Zeit ein seltener chinesischer Farbleporello als Anleitung zur Bambuspapierherstellung oder eines von weltweit sechs Exemplaren der ersten vorlutherischen Bibel auf Deutsch, 1466 publiziert von Johannes Mentelin. Nur die zehn Jahre ältere lateinische Gutenberg-Bibel fehlt hier. Von ihren wohl 180 Exemplaren existieren noch 49 in Europa, den USA und in Japan, davon 13 in Deutschland. Eines hat die Universitätsbibliothek Leipzig, die es nicht ausleiht, eines besaß auch das bereits 1884 gegründete Deutsche Buchmuseum. Doch die beiden Pergamentbände verwahrt bis heute die Russische Staatsbibliothek in Moskau, als Kriegsbeute.

Deutsches Buch- und Schriftmuseum, Leipzig, Deutscher Platz 1. Di – So 10 bis 18 Uhr (Do bis 20 Uhr), Eintritt frei.

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