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Kultur: Buchstabenfragmente: Mi ch, Ei r und Klein öbel

Berlin 1978: Ein junger Kunststudent aus Hamburg beschäftigt sich mit "Schrift im Stadtraum", dem Thema seiner Semesterarbeit. Er findet dazu in Berlin-West die Spuren einer Vergangenheit, die melancholisch in die Gegenwart hinüberragt und von der Verlangsamung in der Entwicklung der Stadt erzählt.

Berlin 1978: Ein junger Kunststudent aus Hamburg beschäftigt sich mit "Schrift im Stadtraum", dem Thema seiner Semesterarbeit. Er findet dazu in Berlin-West die Spuren einer Vergangenheit, die melancholisch in die Gegenwart hinüberragt und von der Verlangsamung in der Entwicklung der Stadt erzählt. Wenige Jahre später wird Stephan Balkenhol als Bildhauer bekannt, der der alltäglichen Befindlichkeit des Menschen in der Skulptur einen ungewöhnlich zugänglichen Ausdruck gibt.

Als Fotograf ist Balkenhol bisher kaum bekannt, obwohl in seinen Katalogen Fotografien ebenso wie die Zeichnungen als Vorarbeiten und motivische Sammlungen zur Genese der Skulpturen eingestreut sind. Das stellte die Galeristin und Buchhändlerin Barbara Wien mit Verblüffung fest, als sie auf seine Fotografien aufmerksam wurde. Sie hat daraufhin die frühe Serie "Zwischen den Häuserzeilen lesen" für eine Ausstellung in ihrem Laden und eine kleine Edition von fünf Bildern (zusammen 3200 Mark) ausgewählt. Die 35 Aufnahmen versetzen den Betrachter unmittelbar in das Westberlin der späten siebziger Jahre, das vielerorts noch sehr der Nachkriegszeit verhaftet war: verwitterter Putz und zugemauerte Fenster in längst geschlossenen Läden, von deren Namensschildern nur noch Buchstabenfragmente zu lesen sind. Zwischen geschlossenen Rollos rätselt man über die fehlende Ergänzung der Beschriftung "Klein öbel" auf der rauen Wandfläche. Im ehemaligen "Hotel" haben sich wohl Hausbesetzer festgesetzt und "Wir bleiben drin" über die Bäume geschrieben, mit denen die Fassade bemalt ist. "Milch" steht einsam über einem Garagentor auf einer leeren und fensterlosen Mauer und "Eier-Schulz" über der eingeschossigen, schwarzgeklinkerten Eckbebauung. Balkenhols Berliner Bilder sind auch ein Abgesang auf den verschwindenden Einzelhandel und Spuren einer Zeit, in der die Stadt sich noch keine Mühe gab, ihr Altern zu verbergen.

Neben den Bildern stellt Barbara Wien ein neues Buch mit Zeichnungen und Fotografien des Bildhauers vor, das gerade vom Centro Galego de Arte Contemporanea in Santiago di Compostela herausgegeben wurde. Beim Blättern fällt auf, wie sehr Balkenhols Skulpturen eine Beschreibungsweise verfolgen, die man von dem wirklichkeitsverbundenen Medium der Fotografie viel eher erwartet als von der zeitaufwändigen Skulptur. Das verbindende Element zwischen den Medien ist die Suche nach Einfachheit und Selbstverständlichkeit. Die unprätentiöse Haltung seiner meist großen Holz-Figuren findet sich in den Fotografien wieder: in der Beiläufigkeit der Ausschnitte und der Wahl der Motive. Balkenhol hat Kapellen auf dem Schützenfest, tanzende Paare im Bierzelt und Autoscooter fotografiert, auch Wohnsiedlungen oder Stadtlandschaften im Vorbeifahren aus dem Autofenster. Verwischt und verwackelt betonen sie das Vorübergehende des Augenblicks. Sie sind auch ein Indiz für die Nähe, die Balkenhol zu einem Publikum sucht, das Vergnügen eher außerhalb der Kunst findet.

Eine andere Gruppe von Bildern belegt in dem Buch "Archiv - archives. drawings and photos form 1977 - 2000" die Auseinandersetzung des Bildhauers mit antiken Kolossen, Heiligen des Mittelalters und Helden der Renaissance. Die Zeichnungen bilden ein Durchgangsstadium, in dem der Künstler die historischen Körperhaltungen transformiert, bis er eine gelassene und entspannte Entsprechung gefunden hat, die unauffällig in unsere Gegenwart passt. So vermittelt das Buch, wie der Künstler seine Skulpturen historisch verwebt.

Katrin Bettina Müller

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