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salzburg

© dpa

Bühne: Die Welt ist ein Fieber

Dostojewski als Trip: Andrea Breth eröffnet mit "Verbrechen und Strafe“ die Salzburger Festspiele. Am Ende landet Raskolnikow im Gulag - und wird zu Sisyphos.

Die Bühne ist dunkel und leer, ganz hinten in der Tiefe flimmert eine helle, noch leere bläuliche Leinwand. Die zwei Hauptpersonen des Dramas stehen mit Abstand verloren im Raum: der Student Raskolnikow – Jens Harzer –, erkennbar an dem Beil, das er probeweise unter seiner wattierten Jacke versteckt, und Sonja – Birte Schnöink –, die heilige Hure im weißen Kleidchen, die ihn nach dem Mord an der Pfandleiherin durch Hingabe errettet und ins sibirische Straflager begleitet. Ihr dünnes Stimmchen singt etwas von „Seligsein auf dieser Welt in ihren Schickalsaugenblicken“, und hallend donnert von oben ein Männerbass:„Glauben Sie an Gott?“ – Raskolnikow: „Ich glaube.“ – „Glauben Sie auch an die Auferweckung des Lazarus?“ – „Ich glaube.“

Mit diesem Prolog stattet die Regisseurin Andrea Breth am Beginn ihres Dostojewski-Trips „Verbrechen und Strafe“, mit dem sie im Landestheater die Festspiele eröffnete, Salzburg „jedermannmäßigen“ Tribut ab. Woran sie am allermeisten glaubt, macht sie mit ihrem Bühnenbildner Erich Wonder im gleichen Zug klar: an die Macht des Kinos. Denn zweifellos blicken wir in einen Kinosaal, einen gigantischen, mit einer durchsichtigen Gaze abgetrennten Projektionsraum, der sich in den kommenden fünf Stunden mit den verstörendsten, wahnsinnigsten, surrealsten Traumbildern füllen wird.

Das gewaltigste: direkt vor der Tat träumt Raskolnikow, wie er als 7-Jähriger an der Seite des Vaters Zeuge der sinnlosen Erschlagung eines Pferdes durch betrunkene Kutscher wird, für das Kind der Riss durch die Weltordnung. Den Traum erzählt Harzer vor einem Landschaftspanorama mit lodernden Höllenfeuern und zerfetzten Tierkadavern, embryohaft an den abgerissenen Kopf des Pferdes geschmiegt.

Einerseits ist das von schlagender Überzeugungskraft. Fjodor Dostojewski breitet ja in seinem 1000-Seiten-Roman, der seine eigene Erfahrung im Gulag verarbeitet, die fiebrige Welt einer fantasierenden, pathologischen Seele aus. Das Experiment, das der abgebrochene Jurastudent Raskolnikow an sich vollzieht – die Selbstermächtigung zum Mord in einer Welt ohne Gott – ist auch das eines Künstlers, eines Spielers. Entweder eine Laus sein wie das dumpfe Gros der Menschheit – oder aber ein Genie wie Napoleon oder Cäsar. Die Qualen des Scheiterns bei so hohem Einsatz sind gerade einer extremen Theaterkünstlerin wie Andrea Breth nicht fremd. Wer könnte eher sagen: „Raskolnikow – das bin ich“?

So erklärt sich auch, dass die Breth den als Bearbeiter vorgesehenen Schriftsteller Dimitré Dinev – durchaus unfein – aus dem Projekt drängte und anhand der Neuübersetzung von Swetlana Geier im Alleingang eine eigene Fassung herstellte. Anders als bei Frank Castorf, der bei seiner „Russen-Serie“ die Texte mit dem Ensemble auf der Probe improvisierte und einen Video-Kameramann als Produzenten parallel eingespielter Bilder einführte, entstand ein fertiges „Drehbuch“ mit Vorblenden, Rückblenden und Überblendungen. Dem filmbesessenen Raumkünstler Erich Wonder, dem Elektronik-Komponisten Bert Wrede und den Designern von Licht und Ton oblag es, den Filmschnitt im Theater zu imitieren – nicht ohne das Brachialmittel, das Publikum beim Szenenwechsel zu blenden.

Dazu ist es den elf Schauspielern aufgegeben, wechselnd über vierzig Figuren zu verkörpern, von zwanzigsekündigen Minisequenzen, zum Teil hochsymbolisch aufgeladenen Tableaus, bis hin zu psychologisch breit ausgemalten Szenen. Salopp gesagt: Andrea Breth meets Bob Wilson, vielleicht auch „nur“ Michael Thalheimer. Nur dass hier die Technik von Bilderrätseln und Aneinander-vorbei-Spielen noch im Probierstadium steckt. Einmal steht ein gerahmtes Ölporträt Fjodor Dostojewskis auf der Bühne, auf dem der Kopf nach links zeigt. Man möchte rufen: Bitte drehen! Es reicht allemal, auch den mit dem Roman gut vertrauten Zuschauer zuweilen auf eine harte Probe zu stellen.

Seine Hauptkraft, seine magische Energie entwickelt der lange Abend dann doch auf Breths ureigenem Terrain: durch die Schauspieler. Allen voran Jens Harzer: der schlaksige, hohlwangige Extremist der Bühne (der in Salzburg schon einmal als Tod im „Jedermann“ Furore machte) ist die Idealbesetzung für den Selbstquäler Raskolnikow. Er ist gleichsam der spitze Stachel im russischen Fleisch, das westlich-rationalistische Gegenprogramm zum russischen Menschen, von dem es einmal heißt: „Er ist eine breite Natur, breit wie sein Land.“ Harzer spielt diesen Amokläufer selten dumpf, meist hell und leicht. Ja, sein Problem scheint auch: dass er nach der Tat eine Rolle spielen muss. Wie schön wäre es, nicht mehr spielen zu müssen. Zweimal brüllt er aus voller Brust: „Ich will allein sein!“

Sein Gegenbild ist Sonja, gegen die sich der Schrei ebenso richtet. Birte Schnöink (was für ein seltsamer Name, aber man wird sich ihn merken müssen!), ein blonder, bodenständiger, trauriger Engel, noch an der Ernst-Busch-Schule, hat die atemberaubende Gradlinigkeit, die diese Männerphantasie von Heiliger und Hure einzig (und gerade noch) möglich macht.

Das ist ohnehin der aufregendeste, verstörendste Punkt dieser Aufführung: wie Andrea Breth gender-politisch an diese schwer erträgliche archaisch-russische Geschlechterordnung, an der auch Raskolnikow nicht rüttelt, herangeht. Nämlich ganz explizit, so dass man sich des Verdachts nicht erwehren kann, die Sache hätte sich der Regisseurin während der Arbeit immer unabweisbarer vor das Raskolnikow-Problem gedrängt.

Die „Frauenfrage“ steht bei Dostojewskij, dem Journalisten und gierigen Zeitungsleser, den ganzen Roman über, mehr oder minder zynisch, auf der Agenda. Debattiert wird, ob die Frau überhaupt ein Mensch sei, ob und wann sie geprügelt werden solle, ob Sonjas erzwungene Prostitution vielleicht gar ein Akt der Emanzipation sei.

Andrea Breth phantasiert heftig aus: Katerina Iwanowna (die schrille Corinna Kirchhoff), die ihre Tochter Sonja auf den Strich geschickt hat (unter anderem um den Alkoholismus ihres Säufermannes zu finanzieren), wäscht eine quälend lange Sequenz lang der breitbeinig daliegenden Tochter mit einem nassen Lappen, den sie immer wieder über einer Schale auswringt, die Scham. Dunja, Raskolnikows Schwester – die eindrucksvoll direkte junge Marie Burchard –, nicht genug, dass sie sich, um den Bruder zu finanzieren, erst als Gouvernante verdingt und sich vom Wüstling Swidrigajlow (der ekelhaft aasige Sven-Eric Bechtolf), später vom schleimigen Karrieristen Luschin (Wolfgang Michael) drangsalieren lässt, nein, sie wird noch, gleichsam nebenbei, auf offener Bühne von Raskolnikow vergewaltigt, während Sonja neben ihnen zusammenbricht. Die Familie, scheint die Breth sagen zu wollen, gebiert „natürlicherweise“ Inzest - der Fall von Amstetten scheint ihr recht zugeben: Russland 1860 kann auch Österreich 2008 sein.

Die Bilder brennen sich, obwohl keine „Überthese“ ergebend, mit voller Schärfe ein. Darob fällt es schwer, dem Kriminalfall Raskolnikow und seinen moralphilosophischen Implikationen noch genügend Interesse abzugewinnen. Die raffinierten psychologischen Schachzüge des Ermittlungsrichters Porfirij (Udo Samel), der den Täter dazu bringt, sich zu stellen, und ihm im Gegenzug ein erstaunlich mildes Urteil verschafft, sie ernten müdes Gelächter. Auch Raskolnikows religiöse „Läuterung“ – er ist bereit, im Gegenzug zu Sonjas Hingabe das „Leid auf sich zu nehmen“ – erscheint ziemlich schal.

Andrea Breths Schlussbild ist denn auch weniger eins der Hoffnung, sondern das klassisch-absurde des Sisyphos: Raskolnikow, den Oberkörper nackt, kniet im Gulag vor drei Eimern und schöpft wechselweise Wasser vom einen in den anderen, bis alle leer sind. Hinter ihm leuchtet auf feurigem Prospekt ein stolzes Pferd mit Reiter. Immerhin, dieses Trauma scheint erledigt.

Heftiger Jubel in Salzburg über eine Aufführung, die gerade in ihrer Unerlöstheit und Sperrigkeit Größe hat. Im Dezember kommt sie zum „spielzeit europa 08“-Festival ins Haus der Berliner Festspiele.

Andres Müry

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