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Nachtflug

© Thilo Rückeis

Nachtflug: Neue Folge, neues Glück

Der Nachtpilot geht wieder an den Start: Für Tagesspiegel.de belebt Thomas Lackmann seine Tagesspiegel-Kolumne über das nächtliche Berliner Kulturleben neu.

Heute abend steuert der Nachtpilot auf der Jagd nach dem Berliner Glück das Zentrum aller Zentren an, den Potsdamer Platz. Cockpit-Helden müssen eigentlich irgendwann, altersbedingt, aufhören; weshalb der Pilot seiner Luftaufsicht, nach längerer Zwangspause, zähneknirschend versprochen hat, in Zukunft nie mehr ohne Copiloten zu starten. „Das nehmen Sie bloß nicht als Eingeständnis persönlicher Schwäche“, murmelt er im Landeanflug, mit einem missmutigen Seitenblick auf Quax, den beflissenen Beiflieger: der seit Stunden versucht,  Funkkontakt zum PR-Stab des Musical Theaters aufzubauen. „Wir waren im Meeting,“ melden sich spät die Presse-Betreuer vom Potsdamer Platz. „Wir haben Ihre Mail heute früh bekommen, können Ihnen Sonderkarten so kurzfristig nicht geben. Das läuft über unsere Hamburger Zentrale.“ Der Pilot runzelt die Stirn, Quax kriegt rote Ohren. Der Flieger kreist: überm Tiergarten. Jetzt ist Stage Entertainment, Hamburg, in der Leitung .  „Mein Chef ist nicht mehr zu erreichen,“ sagt ein netter Musical-Beamter. „Ich bin selbst nur zuständig für  „Blue Man Group“; dafür würde ich Ihnen gern das OK geben. Bei „Dirty Dancing“ kann ich nichts machen.“ Der Pilot denkt: wie schwer doch die Wiedereingliederung ins Berufsleben ist. „Hier Berlin,“ meldet sich noch mal das Theater im Zentrum aller Zentren. „Sowas hätten Sie drei Tage vorher anmelden müssen.“ „Over“, knurrt Quax. Pilot und Beiflieger gleiten sanft auf den stillen Marlene-Dietrich-Platz. Schlendern ins Theater-Foyer. Die Show, bei der es  neben dem Teenie-Tanz ins Glück irgendwie um ein Sixties-Retro und Melonenhandel, aus dem Blickwinkel der 80er, geht,  hat eben begonnen. Karten werden nicht mehr verkauft, trotz 700 freier Plätze, die auf dem Foyer-Monitor, der die Vorstellung zeigt, freilich kaum zu erkennen sind. Stattdessen kreist da eine Drehbühne; ein schickes Restaurant kommt angeschwebt, jemand ruft „Kümmere dich um deine saure Gurke!“, fetter Sound bollert aus den Boxen. „Eigentlich sieht man hier im Fernseher alles bestens“, sagt Quax zufrieden. Der Pilot schwankt am Verkaufs–Stand zwischen  T-Shirts ( „Nobody puts baby in a corner!“), einer teuren Mappe mit Hochglanzfotos und leckeren Plastik-Melonen. Das Foyer ist mit Flachbildschirmen und moderner Kunst, vermutlich letztes Jahrtausend, formschön dekoriert. Bye bye Hochkultur: Nordostflucht. Nach Wedding!

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Vor dem Prime Time Theater, Ecke Müllerstraße, stapeln sich die Kiez-Bewohner. Alle Fan-Generationen. Milieu komplett. Der Pilot & Quax kriegen von dem stämmigen, schwarzbeschopften Türsteher ihre Karten. Sie platzieren sich vorne im Saal. An der Decke: mit Silberpapier umwickelte Lüftungsrohre. Hartfaserplatten, Lautsprechergebirge. Anstrich: grau, ocker. Mehrzweck-Hässlichkeit. Erfahrene Besucher reservieren mit ausgelegten Textilien ganze Stuhlreihen. Die Musenhalle füllt sich. Der Schwarzschopf stapft zur Bühne, an der Tür drängen Aspiranten, er schmiert sich Gel ins Haar, freut sich am Beifall. 30 Personen muss er noch unterbringen. „Wo ist nur dieser Lackmann?“ ruft er. Der Pilot, Reihe 3, hält das für einen Verfremdungseffekt. „Nein, der meint Sie,“ kombiniert Quax blitzschnell. „Dieser Lackmann ist wohl zu zweit auf Toilette gegangen,“ scherzt der Gegelte, stürzt raus ins Foyer. „Das gehört zur Show!“ flüstert Quax. Der Gegelte stürmt zurück, ruft wieder nach „diesem Lackmann“ . Platziert seine Aspiranten namentlich: „Herzlich willkommen, Heidi, im Mittelgang zum halben Preis.“ Die Kultserie „Gutes Wedding, schlechtes Wedding“ , beginnt. Neue Folge, neues Glück.  „Mitte is Schitte / Prenzlberg is Petting / mehr Sex – ist only Wedding!“ Dann wird Germanys next Topf-Modell gekürt. Waldorf-Spross Kathrin („Marienkäfer sind Buddhas wichtigste Geschöpfe“) kommt aus dem Nachbarkiez, mit dem Drang, stündlich den eigenen Namen zu tanzen: auf der Suche nach Hilfsbedürftigen. „Wo sind die jetzt alle? In der Moschee wahrscheinlich.“ Für Achmed von der Imbißbude macht sie die Steuererklärung. Die Topf-Modell-Kür wird als Film eingespielt. Protagonisten schreiten durch eingebeamt wandernde Kulissenprojektion. Der russische Leder-Satanist im Horrorkeller entpuppt sich als muckeliger Fotograf aus der Uckermark. Kathrins Freund, ein Struwwel-Gitarrero der „Friedrichshainis“, bandelt mit der türkischen Rapperin an. Kathrin, die Gute, wird eifersüchtig! Der Kiez johlt. Glück und gute Laune sind  fast dasselbe. Leute wie du und ich sind: Leute wie du und ich. Die Balken biegen sich. Hier gibt`s die Flatrate für Klischees und Pointen. Vergnügtes Laienspiel. Auferstehung des Volkstheaters. Irrflug: nach Süden.

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Die Kreuzberger Rettungsstation Arcanoa, eine prähistorische Kultkneipe, entpuppt sich als Woodstock-Gummizelle. Mittelalter-Styling! Met an der Theke. Baumstämme, Pferdehalfter, Schmiede-Eisen. Abjebrannte Kerzen. Der Axel, der Martin und der Taifun realisieren das „Liedermacherfestival open stage“.  Ein Kind des Gitarristen bohrt Nase. Die Mutter trägt Perlen am Fuß, der Bongospieler das Muscle Shirt „1992“, Zopf und Shorts. Andere sehen aus wie Lehrer oder Frozen Freaks. „Ich würd gern mal mit euch trommeln,“ sagt ein Zuhörer. „Hol schon mal den Flieger, Quax“, sagt der Pilot schnell; was seinen Begleiter gar nicht amüsiert. Senkrechtstart! Notlandung an der Oranienstraße, im SO36  – wo das Café Fatal gastiert, der Tanzboden für alle Orientierungen. Frauenpaare am Kicker, beim Tischtennis, Männer und andere Pärchen verloren im Langsamen Walzer. Seniorenzentrum, Jugendclub, Mehrzweckdisco. Eine Schwarzbluse fragt den Piloten, der Logbuch führt: „Schreiben Sie? Einen Roman? Sonst kennt man sich hier doch. Verraten Sie`s nicht? Alle andern tanzen.“ Nein, viele gucken zu, und seit 22 Uhr 49  wird mitgesungen:  „Immer wieder sonntags kommt die Erinnerung … Und da sind dieselben Lieder / die wir hörten in der Sonntagnacht / als du mir das Glück gebracht.“ Quax muss Bier holen. Discokugel kreist. An der schwarzen Decke: Kabelstränge, ein Riesenventilator. Glanzpapierdeko. Hier ist man spießig, selig oder beides, trägt wahlweise oder kombiniert Glatze, Brille, Schnäuzer, Weste, Jeans. „Eins und Eins das macht zwei …“ Es ist heiß. Fächer flattern. Man walzt und hüpft. „Der Mensch an sich ist feige und schämt sich für sein Gefühl,“ knarrt die ewige Hilde. „Daß es nur keiner zeige, weil die Moral es so will. Doch wenn im Fall des Falles, er sich im Dunkeln versteckt: Der liebe Gott sieht alles …“ Ein Turnierpaar schafft sich Platz. Reife Lebenspartnerschaften schieben Wange an Wange vorbei.  „Bei mir biste scheen … I tried to explain …“ Tiefe Blicke von hier nach dort. „Die posen nicht,“ sagt der Beiflieger. „Nirgendwo in Berlin sieht man so viel glückliche Gesichter.“ Frank Sinatra tremoliert: „New York, New York … I`m melting away.“  Eine Rollstuhlfahrerin, traumhaft sicher, zwischen Tanzbeinen. Irgendwo kippt eine Flasche um. Heimflug, westwärts.

Theater am Potsdamer Platz, Marlene-Dietrich-Platz 1, www.stage-entertainment.de; Prime Time Theater, Müllerstr. 163 / Eingang Burgdorfstr, www.primetimetheater.de; Arcanoa, Am Tempelhofer Berg 8, www.arcanoa.de; Café Fatal im SO36, Oranienstr. 190, www.Cafefatal.de

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