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Volksbühne: Der Kloß der Medusa

Wiedereröffnung der Volksbühne: Frank Castorf versinkt in Friedrich von Gagerns "Ozean".

Alles so schön neu hier. Drehbühne, Belüftung, die ganze Haustechnik. Und das „Abendpersonal“ trägt Uniform. Ich denk’, ich bin im Burgtheater.

Frisch geliftet, doch das Alte drängt mit Macht heran. Es beginnt schon mit dem Stück, das Intendant Frank Castorf zur Wiedereröffnung der renovierten Volksbühne dem Vergessen entreißt. Friedrich von Gagerns „Ozean“, geschrieben 1921, wird jetzt tatsächlich uraufgeführt. Nie zuvor hat sich ein Theater an dieses Textmonstrum gewagt, obwohl Volksbühnen-Urvater Erwin Piscator in den Zwanzigerjahren Massenspektakel mit Riesentechnik in Szene setzte.

Mit Jugend- und Jagdbüchern hatte von Gagern Erfolg. Sein Stil: eine krude Mischung von expressionistischer Naturbeschreibung, Gewalt und Anarchie, deutschnationalem Geraune, Weltuntergangsvisionen, Religionshass und Christus-Mystik. Von fern grüßt Dostojewski, Castorfs Hausgott einer früheren Zeit, als die Volksbühne noch Theatergeschichte schrieb. Heute ist sie ein Museumsstück. Heute sieht eine Castorf-Inszenierung so aus wie das Theater, auf das er einst herabschaute: statisch, blutleer, sich selbst fremd geworden, müde. Man spielt, weil man halt muss. Und niemand sagt: Stopp!

Die Agonie ist in eine neue Phase getreten. Plötzlich wirkt Castorfs Regie ironiefrei. Es wird sadistische viereinhalb Stunden lang, die das Publikum auf unbequemen Sitzkissen (Seesäcken!?) verbringt, schierer Text aufgesagt. Und dieser „Ozean“ spricht für sich: Auf einem Schiff fliehen Deutsche, gescheiterte Revolutionäre, Glücksritter, Spinner, Spökenkieker nach Amerika. Exilantenelend auf hoher See. Feuer bricht aus, das Schiff geht unter, die Erniedrigten und Beleidigten retten sich auf das Floß der Medusa. Und dann bedroht ein Meteorit die Erde.

Die Volksbühne als Havarie, wie könnte man die knüppeldicke Symbolik übersehen. Und wie, um des hier so viel zitierten Himmels willen, soll man diese lustlose, nicht enden könnende Untergangsfeier mitansehen, ohne am eigenen Theaterverstand zu verzweifeln!

Wenn diese Unglücksproduktion einen Hauch von Seele besitzt, so schreien sie sich die Akteure aus dem Leib: Anne Ratte-Polle mit einer Passage aus Antonin Artauds Traktat „Das Theater und die Pest“ (danach klingt es jedenfalls), die Athleten-Proleten Max Hopp und Frank Büttner packen jenen heiseren Irrsinn noch am Schopf, der all die andern Zombies auf dem Zwischendeck längst fest im Griff hat. Volker Spengler, der große Unbekannte an Deck, donnert kurz vor der Pause einen Monolog auf die Bretter, dass man einen Moment mal ahnt, wohin die Reise hätte gehen können. Ein Ketzer, ein Heiland, eine Urgewalt. Doch dann stirbt dieser Walfisch von einem Kerl. Und mit ihm die letzte Hoffnung.

Castorf hat Bärbel Bolle, Dieter Montag und Hermann Beyer an Bord geholt, alte Schauspieler aus Heiner Müllers Tagen, der ein Bewunderer von Gagerns war. Als rauschte der Ozean der Vergangenheit nicht schon laut genug. Die Volksbühne versinkt in ihren Untiefen.

Wieder heute und am 15. und 20. 11.

Rüdiger Schaper

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