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Weihnachtsoratorium: Kantaten-Terror

Das Radialsystem nimmt Johann Sebastian Bachs "Weihnachtsoratorium" auseinander. In der Dramaturgie des Abends nimmt der Nerventest die Position eines Fegefeuers ein. Es folgt die Erlösung in Gestalt einer Aufführung wesentlicher Bestandteile der ersten drei Kantaten.

Zuallererst: Ja, sie hatten recht, die Macher des Radialsystems und der kleinen Berliner Opernkompagnie Novoflot, sich einmal Bachs Weihnachtsoratorium vorzuknöpfen und ihr großes Fragezeichen hinter das unverwüstliche Kantatenkonglomerat zu malen. Denn ganz egal, was man vom Ergebnis dieser über vierstündigen Dekonstruktionsprozedur nun halten mag, angesichts der kaum zählbaren Aufführungen, die Bachs Feiertagshit in diesem Monat in deutschen Kirchen und Konzerthäusern erlebt, tut diese eine Stimme gegen den Klassik-Mainstream schon mal gut. Und allein, wenn man das berühmte „Jauchzet, frohlocket“ beim nächsten Mal nicht mehr nur als prächtigen Soundtrack zum Fest hört, wenn man stattdessen beginnt, sich über den autoritären Gestus dieses Einberufungsbefehls mit seinen Pauken und Trompeten ein paar Gedanken zu machen – ist das nicht schon die Sache wert? Das Bedürfnis scheint jedenfalls da zu sein: Schon vor der Premiere waren alle Vorstellungen ausverkauft.

In den Sälen und Hallen des Radialsystems muss man sich seinen Erkenntnisgewinn allerdings teuer erkaufen. Denn die ambitionierte Produktion, für die Novoflot-Kopf Sven Holm dank Förderung durch die Bundeskulturstiftung und den Berliner Senat eine ganze Hundertschaft an Sängern und Musikern aufbieten kann, treibt dem Publikum schon in den ersten zwei Stunden alle Erwartungen an musikalische Festtagskultur gründlich aus: In Gruppen aufgeteilt werden die Besucher nach draußen in die Kälte geschickt, um mitzuerleben wie die Jungs des Berliner Knabenchors Heilsparolen skandieren, während auf dem gegenüberliegenden Spreeufer die Kinder von Bethlehem gemetzelt werden.

Des Weiteren stehen auf dem Begehungsprogramm: Eine immerhin ganz witzige Betriebsweihnachtsfeier mit Solistenquartett, bei der Bachs Musik ziemlich aus den Fugen gerät. Ein Dialog zweier Kinderdarsteller, die die rezitativische Passagen aus den Kantaten verhackstücken. Und eine gefühlte Ewigkeit in der verdunkelten Halle, in der eine Schauspielerin und ein Posaunist das Publikum so lange mit schlechten Texten und Free-Jazz-Improvisationen foltern, bis die Versammlung geschlossen aus dem Saal rennt und sich die Pause eben erzwingt.

Dass sich der schon vor der Pause begonnene Erosionsprozess des eigentlich extrem gutwilligen Publikums noch bis kurz vor Schluss fortsetzt, dürfte weniger an der mittelprächtigen musikalischen Qualität (Karl-Forster-Chor, Berliner Knabenchor und das Ensemble Kaleidoskop unter Vicente Larranaga) liegen, als daran, dass zu diesem Zeitpunkt bereits klar ist, dass auch Sven Holm keine Antwort auf die Sinnfrage geben kann oder will.

In der gletscherartigen Bühnenlandschaft, zu der das umtriebige Architekturbüro Graft Bachs Musik visuell erstarren lässt, rutschen die Sänger hin und her, um zu zeigen, dass ihnen die Tradition keinen Halt mehr bietet. Und am Ende, nachdem das Licht über der ratlosen Truppe verloschen ist, dudelt diesmal eine ganze Free-Jazz-Combo das wackere Restpublikum einer Zukunft ohne Zwang und Form entgegen. Aber das hört kaum noch einer. Jörg Königsdorf

Jörg Königsdorf

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