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Bewegung für Körper und Geist. Klappholttal bietet keinen Luxus, dafür darf man sich hier ertüchtigen.

© dpa-tmn

Eine utopische Idylle auf Sylt: Bühnen in den Dünen

Die Kolonie Klappholttal verbindet Einfachheit und Naturverbundenheit – seit 100 Jahren in der „Akademie am Meer“

„Das Erste, was ich sah, auch in meinem Leben zum ersten Mal sah , war eine ganz nackte Frau, die am Rande der Dünen in der Nähe von Klappholttal auf einem gewaltigen Pferd saß und im Kreis herumritt“, erinnert sich Hans Rehbock, später langjähriger juristischer Berater von Klappholttal, an die 1920er Jahre in diesem Ort auf Sylt. In diesem Sommer feiert das Refugium an der Nordsee seinen 100. Geburtstag.

1919 ist ein Schicksalsjahr für Deutschland. Der Erste Weltkrieg ist vorbei und die Saat für den Zweiten mit dem Vertrag von Versailles schon gelegt. Die Weimarer Verfassung tritt in Kraft und aus dem Kaiserreich wird eine Republik. Der Kaiser lässt sein Land und sein Berliner Stadtschloss, von dem aus er seine Untertanen einst mit flammenden Reden auf den Krieg eingeschworen hatte, im Stich und geht ins Exil. Die Wiedereröffnung eben jenes Stadtschlosses wurde gerade um ein Jahr verschoben. Vielleicht wäre das Bedenkliche an diesem parallelen Jubiläum 2019 dann doch noch jemandem aufgefallen. Immerhin steht dieser Bau für vieles, das wir seit 100 Jahren überwunden haben, überwunden glaubten.

Gut 550 km nordwestlich von Berlin sieht die Welt ganz anders aus. Dort liegt im Norden von Sylt jener idyllische Ort – bescheidene Häuschen versteckt zwischen den Dünen. Wie Klappholttal seit seiner Gründung die deutsche Geschichte überstanden hat, ist bemerkenswert. 1919 gibt es einen Zwangsstopp der Bahn am Haltepunkt von Klappholttal. In jener zum Stillstand gezwungenen Bahn sitzt ein 20 Jahre junger Mann namens Knud Ahlborn. Als Arzt hat er die Schrecken des Krieges erlebt. Was er dort sieht, ist ein nun nicht mehr benötigtes Küstenschutzstandquartier der Reichsmarine. Der Stopp muss lange genug gewesen sein, um in ihm die grandiose Idee entstehen zu lassen, hier ein neues, anderes, sinnvolles Leben zu beginnen. Nicht allein, sondern in der Gemeinschaft Gleichgesinnter.

Es folgt eine unglaubliche Erfolgsgeschichte. Weil von ihm und seinem Mitstreiter Ferdinand Goebel mutig, klug und vorausschauend gehandelt wurde, weil man bei sich verändernden Bedingungen sofort Korrekturen am Kurs vornimmt und stets offen für Neues ist. Als Erstes wird das Land gepachtet und die darauf stehenden Militärbaracken mit dem Gedanken an eine Ferienerholungsstätte gekauft.

Dem Mediziner ist klar, dass die Menschen nach den vergangenen Jahren einen wirklichen Platz an der Sonne für ihre physische und psychische Genesung dringend benötigen. Im ersten Sommer kommen bereits 800 von der Natur Begeisterte. Umgehend gründen die Herren Ahlborn und Goebel einen gemeinnützigen Verein und ein Kindererholungs- und Genesungsheim, um der Einrichtung das Ein- und Auskommen zu sichern.

Die Krisen der 1920er Jahre gehen an Klappholttal nicht spurlos vorüber, werden aber mit Produkten aus eigener, flugs gegründeter Weberei, Tischlerei und Spinnerei überstanden. 1925 kann auch das Gelände erworben werden. Eine kluge Investition in die Zukunft, wie heute angesichts der Grundstückspreise auf der Insel jeder wüsste. Als zwei Jahre später der Hindenburgdamm eröffnet wird, beginnt der bis heute anhaltende Sylt-Boom, der das Idyllische der Insel zu verdrängen droht. Die Zeit des Nationalsozialismus geht an Klappholttal mit Fahnenappell und Parteibeitritten nicht spurlos vorüber. Die Einrichtung wird dem Amt für Volkswohlfahrt unterstellt und schließt sich dem Reichsbund für Volkstum und Heimat an.

Katzenhai und Tintenfisch

Im Zweiten Weltkrieg wird der Ort dann wieder militärisch genutzt. Nach 1945 erkennen Ahlborn und Goebel die neuen Bedürftigkeiten der Zeit und richten ein Heim für Kriegswaisen mit 200 Plätzen ein. Das Heim und seine Aufgaben wachsen und damit auch die Zahl der (vornehmlich) Mitarbeiterinnen in den Pflege- und Erziehungsberufen, bei der Versorgung und der Verwaltung. So werden die benötigten Mitarbeiterinnen auch gleich vor Ort ausgebildet.

1951 nimmt Klappholttal als Heimvolkshochschule die Erwachsenenbildung wieder auf und beginnt mit dem Bau der heute für den Ort so typischen Tiny-Houses mit den einprägsamen Namen wie „Sandfloh“ oder „Kap Horn“. Und weil das Geld nicht am Strand liegt, wird die so einfache wie bereits anderenorts erprobte Idee des Genossenschaftlichen angewandt. Interessenten können sich an den Kosten der Häuschen beteiligen und wohnen dann später oft und gern in ihrem „Bläuling“, „Katzenhai“ oder „Tintenfisch“, wie die Unterkünfte mit Fantasie benannt werden. Über 40 000 Übernachtungen werden pro Jahr gezählt in den einfachen Unterkünften, nicht weit entfernt vom Sylter Luxusleben.

Manfred Wedemeyer übernimmt die Einrichtung 1971 und kann auch gleich noch Land dazu kaufen; die Anlage im Dünengebiet zwischen Kampen und List umfasst 7,5 Hektar. Unter seiner Leitung wird aus Klappholttal die noch heute so firmierende „Akademie am Meer“. Vor allem Mutter-Kind-Kuren werden der Renner. Er übergibt 1998 an Hartmut Schiller, der sich demnächst anderen Aufgaben widmet.

In all der Geschichte gibt es einen roten Faden. Carlotta André, die 1927 als Kindergärtnerin von ihrem Ausbildungsplatz übernommen wird, beschreibt es so: „Wir waren so begeistert von der herrlichen Natur und weil wir eine große Gemeinschaft waren und an allem teilnehmen durften. Auch in der Zeit, wo keine Gäste da waren, gab es eine Art Programm: Tanz immer, mindestens zweimal die Woche“.

Dazu kommt die Gymnastik. Das sind zentrale Kategorien der Lebensreform-Bewegung. Der Gymnastik-Lehrer Charly Strässer beginnt schon 1927 mit dem Unterricht in rhythmischer Gymnastik. Gret Palucca gibt hier 1950 ihren letzten Tanzabend. Jahrzehnte unterrichtet Roger George künstlerischen Tanz und Pantomime und Ruth Förster Gymnastik und Folklore. Später kommt der Choreograf Johannes Bönig dazu. Ebenso wird bis heute gemalt und musiziert, es gibt Vorträge zum Beispiel über Thomas Mann, Klimawandel oder Tanzhistorie und Schauspielkurse. Viel Yoga, Meditation, Selbstfindungsangebote.

Der Geist des Ortes und seiner Aktivitäten speiste sich aus der Bewegung der Freideutschen Jugend, deren „Meißner-Spruch“, 1913 beim Treffen auf dem Hohen Meißner verkündet: „Die Freideutsche Jugend will: nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, in innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten!“ Und das geschlossen, alkohol- und nikotinfrei und mitunter nackt. Zurück zur Natur, wie damals auf dem Monte Veritá im Tessin. Auch dort stand mit Rudolf Laban und seinen Anhängern der Tanz im Mittelpunkt. Kleider waren da auch nicht so wichtig.

Tanz und Utopie

Die Utopiebewegungen des 20. Jahrhunderts, wozu dann im Grunde auch die Kolonie an der Nordsee gehört, definieren sich aus der Körperkultur und grünen Visionen. Vieles davon ist in die Alltagskultur eingeflossen, der Monte Veritá ist heute ein musealer Ort mit einem Literaturfestival, das sich mit Utopien aller Art beschäftigt.

Das Credo von Klappholttal liegt nach wie vor in der praktischen Verbindung von Natur und Kunst, von kultureller und politischer Bildung. Dabei wird darauf geachtet, dass Vortragende und Lehrende sowie Zuhörende und Lernende sich auf Augenhöhe begegnen. Lernen kann man hier, dass man konservativ und innovativ sein kann, und dass das keinen Widerspruch bilden muss. Dass man mit Zuversicht durch Bildung und mit gemeinschaftlich wahrgenommener Verantwortung der Natur gegenüber Zukunft gestalten kann. Die Idee, mit Gleichgesinnten anders zu leben, und sei es auch nur für kurze Zeit, bleibt ein Zukunftskonzept.

Die Geschichte des Ortes wird ausführlich dokumentiert in dem Band „100 Jahre Klappholttal auf Sylt. 1919 bis 2019. Natur und Bildung in der Akademie am Meer“. Hrsg. von Claus Bacher und Hartmut Schiller, 224 Seiten, 19,95 Euro. Husum Verlag 2019. Infos: akademie-am-meer.de

Ralf Stabel

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