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Die Zukunft hat begonnen. Kreuzgang in Cluny. Die Abtei wird jetzt 1100 Jahre alt.

© Alamy/Mauritius images

Burgund: Stille Tage in Cluny

Göttliche Vision und Computer: Wie im Burgund die größte Kirche der mittelalterlichen Christenheit neu ersteht.

Es gibt ja viele Hotels auf der Welt in spektakulärer Lage. Doch mit dem Hotel de Bourgogne im kleinen Cluny kann es kaum ein Ort aufnehmen. Seine siebzehn Zimmer liegen auf dem Boden einer ehemaligen Kirche, in geweihter Erde, und immer wieder kommt es vor, dass gleich nebenan Sarkophage mit den Skeletten von Mönchen und Bischöfen entdeckt werden. Sie geben Aufschluss darüber, was hier vor über tausend Jahren geschah, in den Mauern der ehemals größten Kirche der Welt, der gewaltigsten Abtei des Mittelalters.

Nicht kleckern, sondern klotzen, das war schon immer das Motto der stolzen Mönche von Cluny. Gäbe es ein Olympia abendländischer Frömmigkeit, hier fände sie ihr Terrain. Ein Kirchenbau, 187 Meter lang, das sind mehr als zwei hintereinandergelegte Fußballplätze. Der „Vorplatz der Engel“, unerreicht bis zum Bau des Petersdoms in Rom. Eine Abtei, in der die Maßlosigkeit Regie führt – und die nach ganz Europa ausstrahlt, bis hin nach Polen und Spanien. Die aber plötzlich wie im Nichts verschwindet.

„Cluny“, erklärt Xavier Verger, „war eine Zentrale, von der klösterliches Leben nach ganz Europa ausging, mächtiger als jedes Firmenimperium heute. Doch die Geschichte ist geradezu bösartig mit Cluny umgegangen.“

Der Kulturmanager Verger ist nach Burgund entsandt worden, um die Feierlichkeiten für Cluny 2010 zu orchestrieren. Für kein anderes Kulturereignis gibt die Republik des Nicolas Sarkozy in diesem Jahr mehr Geld aus als für Cluny. Die Abtei, gegründet am 11. September 910, feiert Geburtstag: Sie wird an diesem Sonnabend 1100 Jahre alt.

Wer heute ins südliche Burgund kommt, in das wellige Hügelland nördlich von Macon, mit seinen wunderbaren Rotweinen, zwischen Wäldern, Wiesen und Weinbergen, der reibt sich allerdings verwundert die Augen. Und fragt: Wo ist eigentlich dieser überdimensionierte Bau? Wo verläuft sein Grundriss? Zu sehen ist davon tatsächlich fast nichts.

„Cluny ist in Frankreich kaum weniger bekannt als Versailles oder der Eiffelturm“, meint Verger. Doch wie es einmal in Cluny aussah, weiß niemand. Immerhin: Es erhebt sich ja noch im Süden der Weihwasserturm mit seinem Steindach, der gigantische Kreuzgang, die weiß-gelb gestrichenen Bögen – ein rötlich schimmerndes Postkartenmotiv, in einer Landschaft voller Licht.

Es herrscht hier immer noch ein Ambiente gefühlter Spiritualität, im Ort selbst und in den umliegenden Dörfern, deren Kirchtürme an norditalienischen Campanile erinnern. Mit Glockentürmen aus mehreren Etagen, leicht und schwebend. Viele Franzosen kommen in den letzten Jahren hierher, das Grün und die sonnigen Felder Burgunds mit dem Rad zu entdecken. Der Weg führt durch Reben mit den besten Weinen Frankreichs.

Xavier Verger führt seine Besucher gern selbst durch den Kreuzgang. Hier steigen keine gregorianischen Gesänge mehr gen Himmel, hier frisst sich schneidender Baulärm ins Trommelfell. Die Arbeiten, vor drei Jahren begonnen, sollen bis 2014 fertig sein. Abgerissene Mauern der einstigen Anlage werden wieder aufgebaut, Sichtachsen freigelegt. Cluny, das jährlich von rund 120 000 Touristen besucht wird, soll wieder einen erlebbaren Platz in der Geschichte einnehmen.

Zum Geburtstag der Abtei will man den Besuchern aus aller Welt etwas vorweisen – vor allem Vertretern aus jenen Gemeinden, die Abordnungen schicken werden, aus den „Töchtern Clunys“, Neugründungen, die sich auch in Schottland, Spanien oder Deutschland gebildet haben. Die Besucher werden dann an den Stadttoren empfangen und nicht etwa in Hotels untergebracht, sondern bei ihren Gastgebern. Enger lassen sich die europäischen Verbindungen Clunys nicht auf den Punkt bringen.

Clunys Kunst, Clunys Reichtum, Clunys Ansehen im Mittelalter – all das hat freilich auch mit dem Geld zu tun, das hier erwirtschaftet wurde. Mit einer Industrie, die die cleveren Mönche perfektionierten: das Beten. „Es ist ganz klar“, sagt Jean-Paul Ciret, der Kurator der Ausstellung „Cluny als Höhepunkt der europäischen Romanik“, „dass Cluny von den Toten lebte. Der Heilige Hugo hat sogar das Fest der Toten erfunden, das jährlich am 2. November gefeiert wird: Allerseelen.“

Beten, beten, beten, immer muss man für die Toten arbeiten. Eine Arbeit, die nie ausgeht.

Clunys Stärke lag genau dort. Nirgendwo wurde so inbrünstig und so viel Fürsprache bei Gott gehalten. Für ein paar Goldstücke mehr konnten sich wohlhabende Adelige eine Grabstätte in der Nähe von Kirche und Altar reservieren, damit produzierte Cluny sein Kapital. Je mehr Frömmigkeit, desto höher die Tantiemen. Mit der Reformation und den Religionskriegen geriet das Kloster allerdings in eine Krise, von der es sich praktisch nicht mehr erholte. Die Mönche wurden vertrieben, die Klostermauern als Steinbruch verscherbelt. Mitten durch die einstige Kirche legte man sogar eine große Allee an – eine Hauptstraße, im Zentrum der Abtei! Hier fand im 19. Jahrhundert der Markt von Cluny statt. „Wer einem Gebäude seine Bedeutung entreißt, der zerstört es“, meint Verger melancholisch.

Und dann sind da noch die Pferde, schnittige Rösser, die zum „Französischen Nationalgestüt“ gehören. Das ließ Napoleon 1806 auf dem Boden der Kirche errichten, um ständigen reiterlichen Nachwuchs für seine Kriegszüge zu züchten. Das Nationalgestüt funktioniert immer noch.

Unglücklicherweise grasen die Pferde auf einem Gelände, das früher einmal zur Riesenkirche Ecclesia maior gehörte. Koppeln, Wiesen, Ställe auf einem Boden, der einmal die heiligste Erde Frankreichs ausmachte. Da wirkt es fast obszön, dass hübsche blonde Mädchen in gewichsten Stiefeln den Besuchern die Hohe Kunst der Spanischen Reitschule vorführen.

Heute geht es darum, diesen Ort wiederherzustellen, ihn für die Besucher begreifbar zu machen. Und tatsächlich: Cluny leuchtet – endlich, nach Jahrhunderten, wieder. Zumindest ein bisschen. Allen ist klar: Jetzt entscheidet sich das Schicksal der Abtei. Die Investitionen im Jubiläumsjahr 2010 werden Cluny als Kulturort entweder retten – oder die Abtei wird endgültig verfallen.

Plötzlich stehen wir vor einer einzelnen Säule. Daneben ein großer senkrechter Monitor. „Er zeigt, wie sich die Kirche dem Betrachter von dieser Stelle aus darbot“, erklärt Verger und dreht den Bildschirm in alle Richtungen. Per Computertechnologie ist das sogenannte ray-on Verfahren entwickelt worden. Der Monitor lässt sich nach oben, unten und zur Seite schwenken, bis der Besucher die historische Perspektive teilt.

Und dann gibt es noch etwas geradezu Futuristisches: das Gunzo-Projekt, eine virtuelle Darstellung, die Cluny bis in die letzten Verstrebungen und Galerien so zeigt, wie es einmal war. Durch Techniken, die in der Welt einzigartig sind, entstehen sie im Computer neu: Hunderte hintereinander gelegter Steinbögen, Tausende Fenster, durch die gedämpftes Licht floss, Kaskaden von Säulengängen – alles erlebbar durch das Eintauchen in eine 3D-Welt, eine Fahrt, die uns mitnimmt bis unter das Dach der dreißig Meter hohen Hauptkirche. Der virtuelle Fahrstuhl darf dabei nur nicht allzu rasant nach oben schnellen, sonst wird einem hinter seiner 3D-Brille schlecht.

Der Informatiker Christian Père ist der Entwickler dieser Reise und eine der Weltkoryphäen für diese Technik. Er hat viele Jahre lang für Boeing und EADS gearbeitet. Jetzt hat Père in Cluny diese virtuelle Welt im Computer geschaffen – zusammen mit Kunsthistorikern, Archäologen und Historikern, ein Gipfel interdisziplinärer Zusammenarbeit.

Das ist es also, das Gunzo-Projekt. Gunzo war der Gründervater und Inspirator von Cluny. Ein Mönch aus dem 11. Jahrhundert, alt und bettlägerig, von seinen Mitbrüdern fast abgeschrieben. Doch im Traum erschienen ihm eines Nachts die Schutzheiligen von Cluny, Peter und Paul, und auch der heilige Stephanus. Sie forderten ihn auf, eine neue, größere Kirche errichten zu lassen, das bestehende Gotteshaus reiche für die Vielzahl betender Mönchen nicht mehr aus.

Am nächsten Tag erhob sich der sieche Gunzo von seinem Lager und verkündete seine Vision von einer riesigen Kirche. Es war der Beginn von Cluny III, der Großkirche, die so viele Jahrhunderte Geschichte schrieb. Kein irdischer Architekt hätte sie erfinden können.

Werner Bloch

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