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Der Digitalisierung widerstehen. Caline Aoun in ihrem Atelier.

© Luis do Rosario

Kunst gegen Digitalisierung: Caroline Aoun macht den Linden-Boulevard zur Oase der Ruhe

Die Libanesin wurde 2018 zur Künstlerin des Jahres gewählt. Im Palais Populaire in Mitte will sie sichtbar machen, was die Digitalisierung verschwinden ließ.

Papierstau, Patrone leer, Error –Drucker können nerven, und am Ende bleibt doch nur ein Weg: tun, was die Maschine sagt.

Nicht ohne Schadenfreude beobachtet man deshalb, wie die libanesische Künstlerin Caline Aoun den Spieß umdreht. Wie sie Drucker bis zur Erschöpfung treibt und darüber hinaus. Das Ergebnis ist auf der ganzen Länge der Wand im Palais Populaire zu sehen, dem Ausstellungsraum der Deutschen Bank im Prinzessinnenpalais.

2018 wurde Caline Aoun als Künstlerin des Jahres ausgewählt. Die Auszeichnung ist verbunden mit dem Ankauf eines Werkes für die Sammlung der Deutschen Bank und mit einer Einzelausstellung.

„Seeing is believing“ heißt die sinnliche Schau Unter den Linden. Caline Aoun will wieder sichtbar machen, was die digitale Technik verschwinden ließ.

„In der digitalen Welt ist die Vorstellung von Zeit und Raum zusammengebrochen“, sagt die Künstlerin. „Wir können direkt über das Internet kommunizieren. Dadurch entsteht ein Gefühl der Entfernung vom Körper“. Die Ausstellung lenkt die Aufmerksamkeit auf die Verluste, die entstehen, wenn die Welt auf Zahlencodes reduziert wird.

Der letzte Tropfen Tinte

So hat die Künstlerin Drucker gezwungen, auch dann noch weiterzuarbeiten, als ihre Tinte fast aufgebraucht war.

Das satte Schwarz der frischen Patrone geht über in dünne Farbstreifen, ausgeblichen wie fadenscheiniger Stoff. Drei Drucker überlebten das Experiment nicht. Die anderen rächten sich, indem sie so nervenzerrend ächzten und quietschten, so lange Pausen einlegten, dass auch Caline Aoun von der Arbeit erschöpft war.

An der Wand kann man jetzt den Spielraum erkennen zwischen dem fetten Glanz der vollen Kartusche und dem letzten Tropfen Tinte. In der Mitte des Raums sprudeln in Brunnen die einzelnen Komponenten des Vierfarbdrucks Cyan, Magenta, Yellow und Key. Im Lauf der Ausstellung werden sich die Farben langsam vermischen.

[Bis 2. März 2020, Palais Populaire, Unter den Linden 5, täglich außer dienstags 11 – 18 Uhr, donnerstags bis 21 Uhr. Die Künstlerin wird am 23.1. um 19 Uhr zu einem Künstlergespräch in Berlin sein.]

Caline Aoun, 1983 in Beirut geboren, hat in London studiert und lebt jetzt wieder in der Nähe der libanesischen Hauptstadt.

„Meine Arbeit“, sagt sie, „ist sehr digital, aber man sieht es nicht“. Eine Webcam sendet live vom Beiruter Hafen. Der Film zeigt die Stelle, an der die Seekabel für das Internet am Meeresboden verlegt sind.

Seeing is believing

Die Informationen, die dabei digital transportiert werden, bleiben unsichtbar. Deshalb übersetzt die Künstlerin die Mengenangaben der Waren, die am Beiruter Hafen und am Flughafen von 2003 bis 2018 durch den Zoll gingen, in grafische Kurven.

So kann man sich die Säcke mit Kartoffeln, die Fässer mit Öl oder die Kisten mit Büchern vorstellen, die ein- oder ausgeführt wurden. Erst wenn man den Knick beim Baumaterial und die Spitzen bei der Einfuhr des Weizens sieht, kann man die Folgen des Libanonkriegs 2006 glauben. Seeing is believing.

Ein Fels in der digitalen Brandung

Eine kaum wahrnehmbare Kurve beschreibt den Import eines Produktes, das im Verschwinden begriffen ist: das Pauspapier hat die Digitalisierung nur als Wortstummel überlebt. Das Kürzel CC in der E-Mail steht für Carbon Copy. Für Caline Aoun aber ist das Kohlepapier kostbares künstlerisches Material.

Sie hatte schon vor der Sanierung des Palais Populaire die Ausstellungsräume besucht, mit Silikon einen Abdruck von der Backsteinwand genommen und das Muster in eine schrill blaue Pappmachémasse aus Durchschlagpapier geprägt. Jetzt sticht der Abdruck des Wandabschnitts ins Auge, während die ursprüngliche Wand von Rigipsplatten verborgen ist.

Davor liegt die Kopie eines Felsbrockens, der vor dem Haus der Künstlerin im Libanon allen Veränderungen des digitalen Zeitalters widersteht. Die federleichte Nachbildung aus angefeuchtetem Kohlepapier kann Caline Aoun mit dem kleinen Finger lüpfen, für das Original braucht sie einen Kran.

Caline Aoun dreht die Perspektive um

Was wird aus dem Reichtum an Farben, Worten und Erfahrungen, aus der Fülle von Masse und Gewicht, wenn die Welt nur als Abbild wahrgenommen wird, wenn sich das greifbare Material auflöst in die Zeichen 1 und 0? Caline Aoun dreht die Perspektive um.

„Seeing is believing“ fordert die fühlbare Qualität der Dinge von der Digitalisierung zurück. „Wir bekommen alle Informationen so schnell, dass ich glaube, wir müssen uns einmal hinsetzen und innehalten“, sagt sie. „Insofern handelt meine Arbeit davon, langsamer zu machen, sich etwas genauer anzuschauen und nachzudenken“.

Besucher machen in der gewitzten Ausstellung die Erfahrung, dass sie selbst die verschwundenen Dinge wieder zum Vorschein bringen können. Dazu muss man sich nur die Zeit nehmen und den Raum.

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