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Wo einst das kulturelle Herz Chinas schlug. Blick in einen Kanal des heutigen Suzhou in der Provinz Jiangsu.

© Almbauer/Wikipedia

Chinesische Literatur: Erinnerungen eines weisen Pechvogels

Neu übersetzt: Shen Fus chinesischer Klassiker „Aufzeichnungen aus einem flüchtigen Leben“.

Über 200 Jahre und die Kultur eines untergegangenen Chinas trennen uns von Shen Fus „Aufzeichnungen aus einem flüchtigen Leben“. Dennoch nimmt einen dieses Memoir eines weisen Pechvogels auf Anhieb gefangen. Shen Fu (1763–1825) aus Changzhou, dem heutigen Suzhou, der berühmten Stadt der Gärten und Kanäle, beansprucht weder, ein Vorbild noch etwas Besonderes zu sein. Recht und schlecht schlägt er sich durchs Leben, Scheitern gehört zum Alltag.

Zunächst ist dieser lange verschollene, erst 1877 wiederentdeckte Klassiker der chinesischen Literatur eine Liebesgeschichte. Als fröhlicher 16-Jähriger heiratet der Erzähler seine Cousine Chen Yun und lebt mit ihr in Harmonie.

Beide lieben Dichtung, Kalligrafie, Malerei, Musik und haben einen Sinn für die Herrlichkeiten von Landschaft und Natur. Sie genießen die Betrachtung des Mondes, die Fahrt in einem Boot über stille Wasser und manchen Ausflug in die Berge.

Dabei verhalten sie sich nicht sentimental, sondern sprechen dem Wein zu, feiern Gelage und mögen Scherze. Dann wieder haben sie nur Augen füreinander: „Wie wir uns stumm an den Händen hielten, schienen sich unsere Seelen in Rauch und Nebel aufzulösen. Urplötzlich dröhnte es in meinen Ohren, meine Sinne schwanden, und mir war, als hörte mein Leib auf zu existieren.“

Leib und Leben jedoch fordern zum Unterhalt vor allem Geld. Fu ist zweimal durch die Beamtenprüfung gefallen und muss sich nun von Job zu Job hangeln, einer so schlecht bezahlt wie der andere. Die fleißige Yun verdient mit, indem sie stickt.

26 adoptierte Knaben

Sie kommt aus dürftigen Verhältnissen, während Fus Vater, „der ehrenwerte Herr Jiafu“, nicht mittellos ist, aber 26 Knaben adoptiert hat, zu denen Fus Mutter noch neun Mädchen aufnimmt. Der Leser hört nicht auf zu staunen über die Bräuche, die Vorschriften und Gewohnheiten, die da befolgt werden.

Das Glück schwindet, als die Bürgschaften, die Shen Fu für die Schulden der Freunde übernimmt, sein Vermögen ruinieren. Wie bei der Mafia geht es um Verpflichtungen, die er nicht ablehnen kann. „Von Natur aus bin ich offen und geradeheraus, musste dafür aber am Ende büßen“, bekennt er. Dazu kommen familiäre Konflikte, Yuns fragile Gesundheit und eine weitere, zarte Liebesgeschichte, die Yun das Leben kostet.

„Wehmut“ heißt das Kapitel, in dem ihr Dahinwelken beschrieben wird, schon der Titel des Buches spielt darauf an. Auch dass die ersten Jahre der ehelichen Liebe so intensiv erlebt werden, verdankt sich dem Bewusstsein der Sterblichkeit. Allezeit ist der Mensch bedroht, sein Dasein flüchtig – umso kostbarer wird der erfüllte Augenblick.

Ursprünglich bestanden die „Aufzeichnungen“ aus sechs Teilen, erhalten sind nur vier. Die beiden Kapitel über Liebe und Tod werden unterbrochen von Betrachtungen über die „kleinen Freuden“. Dazu gesellen sich eine erhellende Einführung durch den Übersetzer Richard von Schirach sowie knappe Erläuterungen, wo immer sie nottun.

Fu liebt Blumen, er übt sich in Gestecken, die den Charakter der einzelnen Blume zur Geltung bringen. Schönheit ist eine Lebensaufgabe: wie man eine Mahlzeit anrichtet, eine Wohnung gestaltet (und seien die Mittel noch so karg), auf welche Weise die Dichtung den Geist erfrischt und wie man im Wechsel miteinander plaudert und dann wieder schweigt: All das gehört zur Lebenskunst und verleiht dem Einzelnen Würde.

Reize der Gleichberechtigung

Selbstverständlich hat der Mann in diesen Fragen das Entscheidungsrecht, von der Frau wird verlangt, „ihr Licht unter den Scheffel zu stellen“. Yun akzeptiert diese Regel, aber nicht immer, und aus Fus Schilderungen des ehelichen Zusammenlebens leuchten die Reize der Gleichberechtigung: kein Befehl, kein Gehorsam kann so viel Glück erzeugen wie die freie, aufrichtige Übereinstimmung zweier Seelen.

„Ach! Yun war als Frau auf die Welt gekommen, doch sie hatte die Willensstärke und Fähigkeiten eines Mannes“, schreibt Fu im Rückblick auf die 23 Jahre ihres Zusammenseins. Er bestärkt sie darin, ihn in Männerkleidung zu den Gelegenheiten zu begleiten, bei denen Frauen nicht erwünscht sind, was wenig später auch die junge George Sand im fernen Paris tun wird.

Doch der Rat, den Fu den Lesern gibt, wäre in Europa kaum populär geworden: „Ich zögere nicht, alle Paare der Welt zu ermahnen, auf keinen Fall einen Ehestreit in Feindschaft enden zu lassen, aber auch nicht zu tief zu lieben.“ Die daoistische Sicht des Lebens verlangt, sich nicht zu fest an Vergängliches zu binden, auch nicht in seinen Gefühlen. Die letzten Seiten berichten „von den Freuden des Umherstreifens“.

Doch Fu ist arm, er muss zu Fuß gehen, trägt Lumpen, hungert und friert. Nur selten kann er sich ohne Sorgen der Anschauung wechselnder Orte überlassen. Dennoch verzweifelt er nicht. Zum Menschen gehört das Unterwegssein. Dafür ist den Göttern auf jeden Fall zu danken.

Shen Fu: Aufzeichnungen aus einem flüchtigen Leben. Aus dem Chinesischen und mit einem Kommentar von Richard von Schirach. Matthes & Seitz, Berlin 2019. 206 Seiten, 22 €.

Gisela Trahms

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